Besprechung vom 27.06.2022
Die Wahrheit über Drachen
Johan Egerkrans versammelt Sagenwissen aus Europa und Asien, Nicola Kucharska führt in bislang ungekannte Lebenswelten ein.
Dem Drachen ist sowohl in direkter Auseinandersetzung als auch thematisch schwer beizukommen. Es sei denn, es handelt sich um den Haselwurm, den kleineren Vetter des Lindwurms, der laut Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens in Pommern und der Lausitz bekannt ist und der Größe nach offenbar unter das namensgebende Gebüsch passt. Doch Vorsicht, das Fabelepos "Froschmeuseler" des frühneuzeitlichen Schriftstellers und Predigers Georg Rollenhagen beschreibt ihn so: "Der Haselwurm / vnd schlich daher / Als wenns ein grosser Meerahl wer / Mit einem harten spitzen Schnabel / Mit Hechts zeen / vnd gifftzungen gabel / Oben fahlschwartz / vnten gehl bleich / Sahe dem leibhafften Teuffel gleich."
Zwei neue Bilderbücher setzen sich mit dem Drachen als fabelhaftestem aller Wesen und mit seinem Ideenkosmos auseinander. Sie machen dabei eine höchst unterschiedliche Figur. Der schwedische Illustrator Johan Egerkrans stellt mit seinem Buch "Drachen" eine Art illustriertes Miniatur-Best-of internationaler Drachensagen vor, während die polnische Kinderbuchautorin und Spielegestalterin Nikola Kucharska sich und dem Betrachter wimmelbildartig ausmalt, "was für unfassbare Sachen echte Drachen gerne machen".
In Schöpfungsmythen spielen Drachen weltweit eine Rolle. Was muss das wohl für ein Geschöpf gewesen sein, aus dessen totem Körper der babylonische Gott Marduk zur Hälfte den Erdboden und zur Hälfte das Himmelsdach formte? Aber man muss nicht gleich bei Tiamat ansetzen: Selbst, wer schon einmal mit einem der berüchtigten Hausdrachen zu tun gehabt hat, wäscht sich lieber mit allen Wassern.
Nun ist diesen ursprünglich gottgleichen Wesen oft eine Art Ferndomestizierung widerfahren, vom altägyptischen Sonnenverschlinger Apep hin zum handlichen Kinderspielzeug aus Gummi. Grisu, der kleine Drache, der gern Feuerwehrmann werden wollte, darf als Ausnahme gelten. Er ist zwar niedlich, aber blitzgescheit. Im Allgemeinen besteht ein Drache aus allem, was dem Menschen gefährlich werden kann: Dem Maul einer Schlange, den Zähnen und Krallen eines Raubtiers, gepanzert und geflügelt, speit er obendrein noch Feuer.
Wie so oft haben menschliche Urängste dieses Wunderwesen abseits von Feldzeichen und Heraldik zumindest im Westen vornehmlich zum gemeinen Ungeheuer degradiert: In der Bibel als Leviathan noch eindrucksvoll apokalyptisch - "Er macht, dass der tiefe See siedet wie ein Topf" (Hiob 41:23) -, verkümmert er durch christliche Einflüsse zusehends zur einseitigen Inkarnation des Teufels und weiter zum gierigen "Landverheerer, Menschenverschlinger und Schatzwächter". Damit wäre er endgültig auf menschliches Niveau hinabgezogen.
Die modernere Fantasy-Literatur nach Tolkien - dessen Smaug: allenfalls ein unausgeschlafener Großkapitalist - hat ihn mit wenigen Ausnahmen rehabilitiert, sodass er der Entwicklung der Zivilisation nicht mehr nur als zerstörerisch-chaotisches Element entgegensteht, sondern sie nachgerade fördert: In Michael Endes "Jim Knopf" wird Frau Mahlzahn zum goldenen Drachen der Weisheit. In Bernhard Hennens Elfenzyklus liefern sich Drachen ein politisches Schachspiel um die Geschicke einer von den Göttern verlassenen Welt. Im Rollenspiel-Universum von Shadowrun wird der Großdrache Dunkelzahn im Jahr 2057 gar zum siebten Präsidenten der Vereinigten Kanadischen und Amerikanischen Staaten (UCAS).
In Egerkrans' Buch werden solche Aspekte in lose absteigender Reihenfolge von "kosmischen Drachen" bis zum Drachenhuhn mit übersichtlichen Begleittexten (aus dem Schwedischen übersetzt von Maike Dörries) präsentiert. Hier steht das griechische Albtraumgeschwisterpaar Echidna und Typhon mit dem schönen Vermerk, Götter und Urwesen hätten "im Allgemeinen ein recht entspanntes Verhältnis zu Inzest", direkt neben der Drachenversion der biblischen Schlange vom Baum der Erkenntnis, die zeichnerisch neben einer schwarzen Eva salopp eingemeindet wird in den kosmischen Reigen. Wir begegnen auch asiatischen Vertretern wie den vier chinesischen Drachenkönigen, Longshen, die in ihren Palästen auf dem Meeresgrund magische Schätze hüten. Oder der japanisch-rustikalen Sage von Kiyohime, die sich tragisch in den Mönch Anchin verliebt, sich nach dessen Zurückweisung in eine Schlange verwandelt, ihn in seinem Versteck unter einer schweren Bronzeglocke aufspürt, sich darumwickelt und die Glocke mit ihrem Feueratem einschmilzt.
Selbst wenn Egerkrans selten tiefer gräbt als der jeweilige Wikipedia-Eintrag und die Verbindungen nicht unmittelbar herstellt, macht es Freude, mögliche Parallelen zwischen Sagen verschiedener Länder auszumachen: Ist nicht die griechische Echidna eine gar nicht allzu entfernte Verwandte der indischen Naga, deren menschlicher Oberkörper vom Unterleib einer Schlange getragen wird? Auch den Drachenstein, der - wie auch immer - am besten aus dem Kopf eines lebendigen Drachen zu gewinnen ist, weil er nur dann seine volle Kraft entfaltet, findet man in der Drachenperle wieder, die chinesische Drachen unter dem Kinn, im Mund oder zwischen den Hörnern tragen. Sie ist ihr wertvollster Besitz, "randvoll mit magischer Energie".
Randvoll mit magischer Energie ist auch das Bilderbuch von Nikola Kucharska, das Drachen in ganz anderem Licht erscheinen lässt: als einstige Freunde der Menschen, die ihnen zur Seite standen, bis es zum "BFDM" (dem Bruch der Freundschaft zwischen Drachen und Menschen) kam, weil sich Menschen zu gierig an Drachenschätzen bedienten, unvorteilhafte Porträts malten - und, na gut, die feurige Drachenschluckauf-Epidemie sowie die "verbogene Krone von König Karl" könnten auch eine Rolle gespielt haben.
In schematischen Zeichnungen und großflächigen Wimmelbildern illustriert Nicola Kucharska die unterschiedlichen Drachenarten und ihre Lebensstile: Wasserdrachen suchen Ruhe und Frieden, Walddrachen ernähren sich von Musik, werden schnell wütend, necken andere gern und sind mit Hexen, Zauberern, Katzen und Raben befreundet. Possierlich sind die Minidrachen. Sie bauen Häuser aus Zuckerwürfeln, verstecken Schuhe und tauschen Edelsteine gegen Marienkäfer aus. Höhlendrachen sind altklug, leben vom Knallbrocken-Abbau und leiden auffallend oft an der Schlafkrankheit.
Da es Kucharska gelingt, auf 32 Seiten eine solche Fülle an originellen Flausen über Drachen zu versammeln, liegt der Verdacht nahe, dass sie selbst im Besitz eines Drachensteines ist. Vielleicht hat sie sich auch einen Springdrachen zur besseren Anschauung erschaffen: Wenn Feen, heißt es in ihrem Buch, einen Sud aus Mäuseblümchen über einen jungen Kohlkopf gießen, schlüpft aus ihm nach zwölf Tagen ein Springdrache. Junge Leser fahren mit beiden Büchern gut, vor allem für den Fall, dass sich demnächst der erste ausgeschlafene Großdrache als Bundeskanzler zur Wahl stellt. AXEL WEIDEMANN
Johan Egerkrans: "Drachen".
Woow Books, Hamburg 2022. 128 S., geb.,
24,- Euro. Ab 4 J.
Nicola Kucharska: "Was für unfassbare Sachen echte Drachen gerne machen".
Thienemann, 2022. 32 S., geb., 16,- Euro. Ab 4 J.
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