Besprechung vom 09.08.2019
Die Renaissance muss gar nicht sein
Vor hundert Jahren erschien Johan Huizingas Buch "Herbst des Mittelalters": Nun liegt es exzellent neu übersetzt vor
Nur wenigen Büchern ist es vergönnt, im Haushalt der Geisteswissenschaften ihre Autoren zu überdauern und noch Generationen später Lektürepflicht zu bleiben. Jacob Burckhardts Versuch über "Die Kultur der Renaissance in Italien" aus dem Jahr 1860 zählt ohne Zweifel zu ihnen, und auch Johan Huizingas 1919 erschienene Studie über die Lebens- und Gedankenformen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden, die er mit dem literarisierenden Titel "Herbst des Mittelalters" versah, darf beanspruchen, ungeachtet allen Wissensfortschritts im Detail, weiter gelesen zu werden. Zumal die pünktlich zum Zentenarium vorgelegte Neuübersetzung von Annette Wunschel die sprachlichen, insbesondere die fachsprachlichen Nuancen Huizingas mit großer Raffinesse ins Deutsche überträgt und überhaupt näher an dessen literarische Sprezzatura heranreicht als die früheren Versuche von Tilli Wolff-Mönckeberg oder Kurt Köster.
Es ist aufschlussreich genug, dass Huizinga sein Buch als eine Art Pendant und zugleich als Gegenentwurf zu Burckhardt verstand. Während der Basler Historiker den italienischen Humanismus und zumal die von ihm darin erkannte Ausbildung des Individuums zu Parametern des modernen Menschen erklärt hatte, schilderte sein im südholländischen Leiden wirkender Kollege das burgundische Spätmittelalter als elegische Dekadenzphase, insistierte aber darauf, dass die Epochengrenze weit weniger scharf konturiert verläuft, als es die Rede von der alles von Grund auf revolutionierenden Neuzeit suggeriert.
Ursprünglich hatte der Titel des Buches lauten sollen "Im Spiegel von van Eyck". Sein Auslöser war die 1902 in Brügge gezeigte legendäre Ausstellung "Les Primitifs flamands à Bruges", die auf seinen Autor scheinbar einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat. Und so sind bildende Kunst und Literatur auch der bevorzugte Gegenstand Huizingas, der Politik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte fast völlig ausgeblendet lässt. Er stellt Jacob Burckhardts emphatischer Beschwörung des Italiens der Renaissance ein nur langsam ausklingendes nordwestliches Mittelalter gegenüber und entwirft eine Kulturgeschichte, in der Ritterideal, höfische Liebesformen, Schönheitssehnsucht, Religion und Mystik, die Intensität des Lebens insgesamt, zu letzter, schwüler Blüte treiben, dabei aber, innerlich ausgehöhlt und entleert, in sich schon den Kern der Verderbnis und des Absterbens tragen. Ohne jedoch wirklich zu vergehen.
In zweiundzwanzig Tableaus entfaltet Huizinga das mitreißende Panorama einer Epoche, die in Wort und Bild, in Spiel und Fiktionen, in künstlerischen Formen also, aus der Wirklichkeit flieht und, darin liegt eine der Pointen des Buches, gerade im vermeintlichen Realismus etwa der Malerei van Eycks, recht eigentlich Lebensverleugnung betreibt. Die Vereinnahmung Jan van Eycks und seiner Zeitgenossen für dieses nördliche Finalissimo der höfischen Kultur wendet sich ganz bewusst gegen die Fortschreibung der Renaissance als epochaler Zäsur, bei welcher der flämischen Malerschule von der Kunstgeschichte stets eine kapitale Rolle zugewiesen wurde. Der Dekadenztheorie Huizingas sind die Kunsthistoriker nie gefolgt, im Gegenteil. Erwin Panofsky etwa hat noch mit seiner Studie "Early Netherlandish Painting" von 1953 versucht, den "Naturalismus" der Brügger Maler, deren faktische Diesseitigkeit, mit dem tradierten symbolischen Gehalt zu versöhnen. Dazu schuf er den folgenreichen Begriff des "disguised symbolism", der fortan der ikonologischen Denkschule zur methodischen Anweisung geriet. Und er brachte Huizinga um sein entscheidendes Argument, im Niedergang der Symbolkraft den Grund für die üppige Wucherung der Formen zu erkennen - und im "Realismus" kein Monopol der Renaissance.
Tatsächlich hatte Huizinga aber gegen die junge Kunstgeschichte wohl von Anbeginn wenig Chancen. Der überhitzte Renaissancekult, der durch Nietzsches Rezeption von Burckhardt zumal das Bürgertum an der Jahrhundertwende um 1900 regelrecht kontaminiert hatte und gegen den Huizingas Buch sich wie ein wirkliches Antidot liest, ließ eine solche Einherbstung der Neuzeit-Euphorie nicht zu. Und die Kunstgeschichte, zumal die deutschsprachige, ist dieser Haltung weitgehend gefolgt: Mit der Einrichtung zweier kunsthistorischer Forschungsinstitute in Florenz und Rom schuf sie gleichsam Außenstationen der eigenen renaissancistischen Selbstvergewisserung.
Aber auch in der Folge hat der Renaissancehumanismus als heuristische Matrix gedient. In Panofskys rasch kanonisch gewordenem Buch über "Die Renaissancen der europäischen Kunst" (1960), das keinen Zweifel zulässt an der Renaissance als perspektivischem Fluchtpunkt, auf den alle Ereignisse der Geschichte notwendig zulaufen, sind alle vorgängigen Phasen allenfalls zur Inkubationszeit degradiert - und figuriert Huizingas Werk nicht einmal in der Bibliographie. Dazu gedacht werden muss allerdings, dass für Panofsky, wie für viele seiner aus Nazideutschland geflohenen Kollegen auch, die Bezugnahme auf den Humanismus zugleich als Bollwerk gegen die Verwüstungen des Nationalsozialismus diente. Aber auch Hans Blumenberg ist in seinen Neuzeit-Studien nicht weiter auf Huizinga eingegangen.
Dass die Renaissance aber "schwerlich ein brauchbarer Terminus" sei, hat Huizinga in seinem 1920 verfassten Aufsatz "Das Problem der Renaissance" versucht, seinem Buch unmittelbar nachzutragen. Tatsächlich liest sich dieser, gemeinsam mit einem weiteren, zur gleichen Zeit entstandenen Artikel über "Renaissance und Realismus", wie ein notwendiges Addendum zum "Herbst des Mittelalters", es sind gleichsam dessen Schlusskapitel. Für Huizinga, dessen Gedanken um Kontinuität und Diskontinuität kreisten, stellte auch die Renaissance nicht mehr dar als eine transitorische Phase, die kaum in eigenem Recht steht. Brüche, Schnitte verliefen auch durch sie hindurch, genauso wie sich mittelalterliche Traditionen hielten.
Als wirkliche kulturelle Zäsur hat Huizinga, wenn überhaupt, die Aufklärung betrachtet. Das widersetzt sich dezidiert der Zyklentheorie Oswald Spenglers und korrespondiert auffällig mit dem Primat der "longue durée" der Pariser Annales-Schule, mit der Huizinga zeitweise auch in engerer Beziehung stand. Und es bestätigt die Aktualität seines Buches, dass Epochengrenzen, zumal zwischen Mittelalter und Renaissance, auch von der kunsthistorischen Forschung längst hartnäckig perforiert worden sind. Selbst der Antike-Rekurs wurde inzwischen weit vor dem sogenannten "Rinascimento" namhaft gemacht. Wobei überrascht, dass Huizingas Buch in der einschlägigen Literatur nur wenig präsent ist. Dabei ist es auch ein genuin kunsthistorisches Werk, was zumal die vorliegende Neuübersetzung gut nachvollziehbar macht.
So stellt der "Herbst des Mittelalters" hundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen vor einen merkwürdigen Widerspruch. Kaum jemand in den Kulturwissenschaften wird sich ja finden, der das Buch nicht kennt, die meisten lieben es wohl; verlegerisch ist es ohnehin ungebrochen ein verlässlicher Posten. In den Fachdiskursen aber wird es nicht wirklich verhandelt. Vielleicht muss es das auch gar nicht. So wie Goethe über Winckelmanns Werk bemerkt hat, dass man nichts lerne, wenn man ihn lese, dafür aber jemand werde, gilt auch für Huizinga und andere Autoren unvergänglicher Bücher, dass sie sich weniger als philologische Handreichung empfehlen, sondern durch ihre Haltung und literarische Geste.
ANDREAS BEYER
Johan Huizinga: "Herbst des Mittelalters". Studien über Lebens- und Gedankenformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018. 550 S., Abb., geb.
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