Jonathan Franzens Familienchronik hat am internationalen Buchmarkt mächtig Aufsehen erregt. Nach Erscheinen der deutschen Übersetzung Anfang des Jahres schlossen auch hierzulande viele Leser das schrullige Ehepaar Lambert und ihre drei Sprößlinge Gary, Chip und Denise in ihr Herz. Jetzt erscheint Franzens Meisterwerk als gekürzte Hörfassung auf 10 CDs. Und die kann es trotz Langstrecke mit der Roman-Vorlage aufnehmen - Hörbuch-Profi Ulrich Pleitgen sei Dank. Mit sehr viel Feingefühl akzentuiert er Franzens analytisch-sarkastischen Text, vermeidet Überzeichnungen im Vortrag und betont die verständnisvollen Zwischentöne des Autors. Diese Droge macht auch bei ohraler Einnahme sofort abhängig!
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Es gibt ihn wieder, den großartigen Roman, der weit ausholt und eine richtige Geschichte erzählt, geschrieben in einer wunderbaren Sprache. Die Rede ist von "Die Korrekturen", verfasst von Jonathan Franzen, der mit diesem Buch die Tradition der "Great American Novel" neu belebt.
St. Jude im Mittelwesten ist die Heimat von Enid und Alfred Lambert. Ihre drei Kinder sind längst aus dem Haus und die beiden freuen sich auf ihren Urlaub. Eine Kreuzfahrt der Spitzenklasse soll Enid vergessen lassen, dass ihr Mann unheilbar an Parkinson erkrankt ist. Doch zuvor ist ein kleiner Abstecher nach New York zu ihrem mittleren Sohn Chuck vorgesehen.
Chuck, der gerade erfahren hat, dass es mit dem Professoren - Job an der Universität leider doch nichts wird und sein Drehbuch bei seinem Agenten auch keine Begeisterungsstürme erzeugt, ist nicht sonderlich erfreut, seine Eltern zu bewirten. Lange hat er sie nicht mehr gesehen und am liebsten drückt er sich vor lästigen familiären Pflichten. Als ihn dann auch noch, kurz bevor seine Eltern bei ihm eintreffen, die Freundin verlässt, ist für Chuck das Fass am überlaufen. Zeit eine kurze Verschnaufpause einzulegen. Schließlich kann seine jüngere Schwester Denise die Gastgeberpflichten als erfolgreiche Restaurant - Geschäftsführerin viel besser übernehmen als er.
Es ist nicht das erste Mal, dass Denise Chuck aus der Patsche hilft. Für ihren eigenen Scherbenhaufen im Leben, den sie gerade dabei ist mühsam zusammenzuflicken, interessiert sich in der Familie sowieso kein Mensch. Ihre Mutter wird Denise immer an ihrem ältern Bruder Gary messen, der neben einem erfolgreichen Job sogar eine eigene Familie mit funktionierender Ehe und drei wohl geratene Sprösslinge vorweisen kann. Doch Vorsicht, auch bei ihm trügt der oberflächliche Schein.
Enid hat an ihre drei Kinder nur einen einzigen Wunsch: Sie möchte ein letztes Mal zusammen Weihnachten in ihrem eigenen Haus in St. Jude feiern, denn es ist für alle Familienmitglieder leicht durchschaubar, dass sich Alfreds Zustand rapide verschlechtert und das Haus für die beiden zu groß wird. Also, noch einmal Weihnachtsbaum und Kerzenschein mit trautem Glück und keinen Streitereien. Eine schwierige Forderung an alle Beteiligten.
Aus kurzem zeitlichen Abstand, es sind tatsächlich nur drei Stationen, - der Besuch bei Chuck in New York, die Kreuzfahrt und das Weihnachtsfest -, entwickelt Jonathan Franzen eine verzweigte Familiengeschichte mit fein austarierten Charakteren. In hervorragend geschnittenen Rückblenden deckt er die Schwierigkeiten der einzelnen Familienmitglieder miteinander auf. Ganz deutlich hebt er die Sprachlosigkeit von Chuck hervor, der es nicht fertig bringt, seinem Vater zum 75. Geburtstag zu gratulieren und solange mit dem Anruf wartet, bis der alte Mann zu Bett gegangen ist. Oder die Lügen, die er seinen Eltern wortreich auftischt, von denen er weiß, dass nichts davon so stimmt, wie er es schildert.
Auch die Sprache von Jonathan Franzen ist erfrischend und unverbraucht. Er spielt mit ungewöhnlichen Vergleichen, "zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten", oder erfindet neue Wortbilder, wenn er "vom Barschbauchweiß des Himmels" spricht, "das allmählich die Farbe von Fischflossen und Fischrücken annahm".
Der Familienhorror findet seinen Höhepunkt am Weihnachtsfest. "Nie hatte es Denise in den Kopf gewollt, dass das Leben in St. Jude zu einem solchen Alptraum geworden sein könnte; und welches Recht hatte man, einfach weiterzuatmen, ja, schlimmer noch, zu lachen und zu schlafen und sich das Essen schmecken zu lassen, wenn man sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie schwer das Leben eines anderen war?"
Man kann nicht genug von diesem herausragenden Buch schwärmen, das mit Sicherheit alle Leser, die den Roman "Der menschliche Makel" von Philip Roth genossen haben, überzeugen wird. Wer sich dieses einmalige Vergnügen entgehen lässt - selber Schuld.
Manuela Haselberger