Besprechung vom 07.08.2019
Kleine Baumeister großer Werke
Ein Dasein in "vollster Gütergemeinschaft": Jutta Person streift durch die Geschichte von Korallen und Menschen.
Sonderbare, elegante Sträucher, die Gorgonen, die Isis-Flechten breiten ihre Fächer aus. Die Koralle leuchtet rot unter den Fluten." So heben in Jules Michelets Buch "Das Meer" aus dem Jahr 1861 die Beschreibungen der Korallen an: jener Tiere die sich "mit einem befremdlichen botanischen Luxus ausstatten, mit den Livreen einer exzentrischen üppigen Flora. So weit das Auge reicht; ein endloses Meer von Blüten, Pflanzen und Sträuchern - jedenfalls hält man sie dafür, aufgrund ihrer Formen und Farben. Doch diese Pflanzen bewegen sich, diese Sträuche sind reizbar . . ."
Michelets Hommage an die Tiere, welche das Pflanzenreich imitieren, ist eines von vielen Zeugnissen der Korallen-Faszination, die Jutta Person in ihrem Büchlein aufruft. Ernst Haeckels fünfzehn Jahre später entstandener Bericht von "Arabischen Korallen" ist ein anderes. Da geht es nicht nur um die ästhetische Faszination der Blumentiere, für welche dann auch die Korallenbilder in Haeckels "Kunstformen der Natur" einstehen werden. Die Lebensgemeinschaft der Polypen im Korallenstock, die über die Gastrokanäle vergemeinschaftete Ernährung, wird auch zum Naturvorbild "vollster Gütergemeinschaft" und verkörpert "das Ideal der Socialdemokratie in greifbarer Wirklichkeit". In den "Naturformen" ist daraus dann sogar der "vollständige Kommunismus" geworden.
Tatsächlich hatten es die Korallen ja auch in das "Kapital" geschafft. Wenn Marx von der Auswirkung der arbeitsteilig spezialisierten Lohnarbeit in den Manufakturen schreibt, kommt er auch auf die "abgeschmackte Fabel des Menenius Agrippa", jenes römischen Patriziers, der die aufständischen Plebejer in kunstvoller Rede daran erinnerte, dass im gesellschaftlichen Organismus der Magen, also das Patriziat, unverzichtbar sei, dem die anderen Organe und Glieder Nahrung zuliefern. Und da kommen die Korallen zum Zug, wenn auch nur in einer Fußnote: Denn bei ihnen "bildet jedes Individuum in der Tat den Magen für die ganze Gruppe. Es führt ihr aber den Nahrungsstoff zu, statt wie der römische Patricier ihn wegzuführen".
Und der nüchterne Charles Darwin, dessen Sache hingerissene Beschreibungen von Riffen und unterseeischen Wiesen nicht waren, wechselt doch in eine höhere Stillage, wenn er die Arbeit der "kleinen Baumeister", nämlich der riffbildenden Korallen, würdigt, deren aus "vereinten Mühen von Myriaden von Architekten" hervorgehenden Bauwerke der Gewalt der Wellen und Hurrikans trotzen.
Bei Person findet man diese und viele weitere Zeugnisse der Wissenschafts- und Faszinationsgeschichte der Korallen. Deren Biologie wird zwar durchaus behandelt, aber die Autorin beschränkt sich da auf das Allerwesentlichste und einige wichtige Etappen des zunehmenden Wissens über die Blumentiere. Als Michelet seine Hommage an sie schrieb, waren die Korallen seit etwa hundertzwanzig Jahren mit den Weihen der naturkundlichen Autoritäten im Tierreich angekommen. Zuvor galten sie, seit der Antike, als Pflanzen, die zudem noch einen reizvollen, die Imagination lange beschäftigende Übergang ins Reich des Mineralischen bildeten.
Ovids Geschichte von der Entstehung der Korallen in den "Metamorphosen", von der die Autorin ihren Ausgang nimmt, fand für diesen Übergang eine Herleitung: Pflanzen ziehen aus dem abgeschlagenen Kopf der Medusa, den Perseus nach der Rettung Andromedas vor dem Seeungeheuer abgelegt hat, die versteinernde Kraft der Gorgo, bevor Nymphen sie ins Meer befördern. Mit einer Variante konnte es auch das Blut der Gorgo sein, das die Pflanzen zu Korallen versteinerte; womit die Farbe der beliebtesten Schmuckkoralle, Corallium rubrum, hergeleitet war.
Mit dieser roten Edelkoralle ist gleich eine Spur in die Kunstgeschichte gelegt. Dass die Korallen auf Gemälden der Renaissancemaler zu finden sind, hat wiederum mit der ihnen zugeschriebenen Macht zu tun, Unheil abzuwehren, nicht zuletzt den "bösen Blick". Person führt das zu einem kleinen Exkurs in die volkskundlichen Erläuterungen solcher Vorstellungen. Wie sie überhaupt, weil sie bündig zu schreiben weiß, manchen Seitenweg elegant unterbringt; zur Aquarienmode etwa, die im viktorianischen England beginnt, aber auch einen kurzen Bericht von ihren eigenen Tauchgängen an Korallenriffs.
Es fehlen nicht abschließende Bemerkungen zu den Auswirkungen von Erd- und damit Wassererwärmung der Ozeane: Die steigenden Temperaturen zerstören das symbiotische Ensemble von Polypen und eingelagerten Algen, den Zooxanthellen, mit letalen Folgen für die ausbleichenden Korallen. Die Übersäuerung des Meerwassers als mittelbare Folge des steigenden CO2-Anteils in der Atmosphäre führt gleichzeitig zum Abbau der Kalkstöcke bei den Riffbildnern, Zerstörungen durch Fischfang und Verschmutzungen kommen hinzu. Wie dieser Prozess zumindest abzuschwächen wäre, darüber lässt die Autorin einige Experten zu Wort kommen, die insbesondere das ökologische Netzwerk des Riffs untersuchen.
Der Band schließt mit einer kleinen Korallen-Galerie und ausgewählten Literaturhinweisen. Sie runden ab, was für ihn als Ganzes gilt: Auf knappem Raum wird erstaunlich viel geboten, gut verknüpft und stilsicher erzählt.
HELMUT MAYER
Jutta Person: "Korallen". Ein Porträt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
191 S., Abb., geb.
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