Besprechung vom 07.03.2021
Gerechtigkeit für alle
Kamala Harris schreibt in ihrer Autobiographie von ihren Jahren als Staatsanwältin. Erzählerisch ist sie weniger ambitioniert als Barack Obama. Aber unmissverständlich.
Bayview ist ein Stadtteil von San Francisco, in dem Menschen, die anderswo wohnen, lieber nicht spazieren gehen. Abgeschnitten vom Schnellstraßennetz, unterversorgt mit Infrastruktur, überproportional geplagt von Dramen der Arbeitslosigkeit, Armut, Sucht und Verwahrlosung, die sich auf den Straßen abspielen. Eine hohe Kriminalitätsrate, eine geringe Rate an aufgeklärten Verbrechen.
In diesem Viertel eröffnete Kamala Harris im Jahr 2003 ihr erstes Wahlkampfbüro, obwohl sie selbst ganz woanders wohnte. Doch sie wollte den Menschen in Bayview ein Versprechen geben: dass sie nicht vergessen würden, sollten sie ihr ihre Stimmen geben. Sie trat als Kandidatin für die Bezirksstaatsanwaltschaft an. Sie war kämpferisch. Fragen der Gerechtigkeit seien es, die von der Strafanwaltschaft verhandelt würden, nicht allein solche der Anklage und Bestrafung. Es sei ihr ein Anliegen, für die Würde und den Schutz der Opfer einzustehen. Sie werde dafür sorgen, dass Gerechtigkeit bis nach Bayview komme. Sie gewann.
Aber auch damals hieß ihre über ihr Amt hinausgehende Botschaft bereits "Einheit". Ihre tiefe Überzeugung war (und ist es geblieben), dass alle Amerikaner in den wichtigen Fragen mehr verbindet als trennt. So steht es in ihrer Autobiographie "Der Wahrheit verpflichtet", die am Montag in deutscher Übersetzung erscheint. Es sind diese Sätze, die bereits einen Vorschein auf den Posten werfen, den sie inzwischen als Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten innehat.
Die Überzeugung der inneren Verbundenheit aller Amerikaner ist angesichts der Ereignisse der letzten Jahre eine erstaunliche Aussage. Doch als Kamala Harris diese Sätze in ihr Buch schrieb (die Originalausgabe erschien 2019), konnte sie von dem Versuch des amtierenden Präsidenten, die Wahl im November 2020 als eine gefälschte zu diskreditieren, und von dem Angriff seiner Anhänger aufs Kapitol noch nichts wissen. Sie konnte noch nicht einmal wissen, dass sie die erste Vizepräsidentin, die erste Schwarze und die erste Person mit indischen Wurzeln auf dieser Position sein würde.
Ihr Buch beginnt mit der Wahlnacht im November 2015, in der sie Senatorin Kaliforniens wurde und Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten. "In den Jahren, die seither vergangen sind, musste ich mit ansehen, wie die Regierung sich zu Hause auf die Seite der Rassisten stellte und im Ausland bei Diktatoren einschmeichelte; wie sie Mu?ttern ihre Babys entriss und damit in grotesker Weise gegen Menschenrechte verstieß; wie sie Konzernen und Reichen riesige Steuergeschenke machte und die Mittelschicht vergaß; wie sie unseren Kampf gegen den Klimawandel torpedierte, das Gesundheitswesen sabotierte und das Recht der Frauen in Frage stellte, über ihren eigenen Körper zu bestimmen; und wie sie gleichzeitig auf alles und jeden einschlug, darunter auch die freie und unabhängige Presse." Und dann kommen jene Sätze, die immer wieder zu hören waren und selbst nach dem 6. Januar 2021 nicht verstummten: "Das sind wir nicht. Wir Amerikaner wissen, dass wir besser sind. Aber wir müssen es unter Beweis stellen."
Das ist der Ton. Klarer Kampagnenmodus ohne Beiwerk. Pragmatisch ohne erzählerische Ambition. Unmissverständlich, was beim Buch einer Politikerin unbedingt von Vorteil ist. Der Wahrheit verpflichtet zu sein bedeutet festzustellen: "Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Antisemitismus sind real in unserem Land." Das ist der Ausgangspunkt. Und Kamala Harris belegt das mit erschütternden Details: "In Städten wie Baltimore, in denen die Rassentrennung bis heute real ist, haben die Bewohner von armen Schwarzen Vierteln eine um zwanzig Jahre geringere Lebenserwartung als die Bewohner wohlhabenderer weißer Viertel." Schwarz wird in diesem Buch konsequent großgeschrieben, um klarzumachen, es handelt sich nicht um die Farbe, sondern um eine Zuschreibung.
Kamala Harris war also Senatorin, als sie diese Erinnerungen aufschrieb, vertrat Kalifornien in Washington und hatte sich im ganzen Land vor allem damit einen Namen gemacht, dass sie bei den im Fernsehen übertragenen Anhörungen von Ministern und Obersten Richtern eine scharfsinnige und daher überaus unangenehme Vernehmungstechnik aufbot, um deren Schwächen, manchmal auch Schweinereien ans Licht zu bringen. Die Autobiographie schrieb sie als eine Art Begleitbuch zu ihrem Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten.
Was als Erstes die Frage beantwortet: Wer ist ihr Adressat? In diesem Fall ist es nicht die Geschichte. Sondern alle, die sie wählen könnten. Ihnen erzählt sie, dass auf ihrer ersten To-do-Liste nach ihrer Wahl zur Bezirksstaatsanwältin stand: "Wände streichen". Nicht in ihrem Büro, sondern in den Büros ihrer Mitarbeiter. Deren Zustand schien ihr Ausdruck der Verkrustungen des ganzen Landes zu sein, gegen die sie angetreten war. Was sagt es einem Angestellten, wenn er in einem Zimmer sitzt, das seit Jahren vor sich hingammelt? Motiviert ihn das? Fühlt er Wertschätzung? Ahnt er, wie wichtig seine Arbeit ist? Außerdem erzählt sie von ihrer Familie, der geliebten Mutter und Schwester vor allem, den Traditionen, die in ihrer Kindheit gepflegt wurden, und jenen, die sie selbst einführte, wie das familiäre Abendessen vor den Wahlpartys all die Jahre. Sie erzählt, wie sie ihren Mann kennenlernte und dass sie ein gutes Verhältnis zu seinen Kindern hat. Das ist alles erwartbar, weit weniger elegant geschrieben als Barack Obama das in seinen Erinnerungen tut, aber es erfüllt seinen Zweck: nämlich dieser Frau eine weichere persönliche Kontur zu geben, als es ihre langjährige Funktion als Bezirks- und dann Generalstaatsanwältin und damit "Oberbulle" Kaliforniens ("she's a cop!") nahezulegen scheint.
Kritik an Kamala Harris kam lange von verschiedenen Seiten. Natürlich von der konservativen, der sie zu radikal, zu tough, zu erfolgreich war - als Frau, als Schwarze. Trump und seine Leute griffen zu rassistischen Stereotypen und nannten sie eine "mad woman", "besonders bösartig und wütend". Aber auch in Teilen der Schwarzen Community, die sie auf Seiten der Polizei sah, unter deren Übergriffen, deren Gewalt so viele Schwarze täglich zu leiden hatten oder an der sie regelmäßig starben, regten sich Zweifel. Kamala Harris musste ihre Entscheidung, als Juristin eine Karriere als Staatsanwältin zu machen, immer verteidigen, weil im Namen des Staats so viel Unrecht veranstaltet und so viel Missbrauch mit dieser Macht getrieben wurde. Sie weiß das, und sie zählt viele Fälle auf. Aber sie erzählt auch von den mutigen Staatsanwälten, die etwa in Mississippi gegen den Ku-Klux-Klan vorgingen, und schreibt, ihr habe die Alternative "Durchgreifen oder Nachsicht" als einzige Handlungsoptionen nie eingeleuchtet. Es könne von der Polizei erwartet werden, gegen Verbrechen in den Stadtteilen vorzugehen und dabei niemanden zu ermorden. Dies alles sind Erklärungen an Menschen und potentielle Wähler, die nicht ganz sicher waren, auf welcher Seite sie stand.
Was aber erzählt dieses Buch dem deutschen Publikum, nachdem die Wahl längst vorbei ist, die sie als Vizepräsidentin ins Weiße Haus gebracht hat? Es bekräftigt die Hoffnung auf eine progressive Politik, die als Vorbild für andere Länder taugen könnte, sei es bei der Legalisierung von Marihuana als Strategie gegen die fatale Opioid-Krise oder im Kampf gegen Wirtschaftsverbrechen wie jene, die zur Finanzkrise 2008 führten. Kamala Harris hat damals für Kalifornien, das vom Zusammenbruch des Immobilienmarkts besonders hart getroffen war, die Verhandlungen mit den Banken geführt. Ihr Bericht darüber zählt zu den spannendsten im Buch, nicht nur weil sie die Entschädigung für die betrogenen Hausbesitzer am Ende von zwei bis vier Milliarden auf letztlich zwanzig Milliarden Dollar hochverhandeln konnte.
Am Ende aber ist die Botschaft der ehemaligen Staatsanwältin vor allem diese: Vorurteile erzeugen keine mildernden Umstände. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass die Dinge bleiben, wie sie sind. Wenn sich alle in dieser großen Frage einig wären, das wäre was.
VERENA LUEKEN
Kamala Harris: "Der Wahrheit verpflichtet. Meine Geschichte". Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, 336 Seiten
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