Besprechung vom 03.04.2022
Schonungslos auf der Suche
Karl Ove Knausgård ist zurück. Den neuen Roman "Der Morgenstern" stellt er jetzt in Frankfurt vor.
Von Katharina Deschka
Kann man als Autor noch einmal hinter seine Figuren zurücktreten, sich noch einmal in einem Roman unkenntlich machen und verstecken, wenn man bereits ein monumentales, sechsbändiges Werk über das eigene Leben veröffentlicht hat? Oder hat man seinen Lesern dann schon zu viele Details über die Biographie verraten, die man als die eigene preisgegeben hat, sodass sie immer wieder vertraute Motive entdecken und die Stimme des ihnen bekannten Erzählers hören werden in jedem neuen Band, der von nun an folgt?
Wenn es einen Schriftsteller gibt, der in den vergangenen Jahren sein eigenes Leben explizit zum Romanprojekt hat werden lassen, dann ist es der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Seine autofiktionale Reihe "Min Kamp" ("Mein Kampf") - auf diesen Gesamttitel verzichtete man auf Deutsch wohlweislich - mit den Bänden "Sterben", "Lieben", "Spielen", "Leben", "Träumen" und "Kämpfen" erzählt radikal selbstentblößend das Leben des 1968 geborenen Autors und der Menschen um ihn herum.
Ausgehend vom Tod des Vaters im ersten, im Original 2009 erschienenen Band, beschreibt Knausgård seine Kindheit und Jugend sowie seinen weiteren Lebensweg. Die Leser erfahren Schmerzliches über seine zweite Ehefrau Linda, die an einer bipolaren Störung leidet. Oder über Knausgårds Verhältnis zu seinem Vater, dessen Alkoholkrankheit und frühen Tod und auch darüber, wie es für den Schriftsteller ist, drei kleine Kinder zu erziehen.
Seine schonungslosen und fesselnden Schilderungen eines Suchenden, in denen man sich auf die eine oder andere Weise als Leser auch selbst finden kann, brachten ihm neben Vorwürfen sehr viel Bewunderung ein: In rund 30 Sprachen wurden seine Bücher übersetzt und fanden sich weltweit auf den Bestsellerlisten. Doch auf neuen Stoff mussten seine Fans nach Abschluss seiner Romanreihe eine Weile warten. Der letzte Band von "Min Kamp" erschien 2011 (auf Deutsch 2017), es folgte 2020 die deutsche Veröffentlichung seines Debütromans "Aus der Welt" von 1998, der wegen der Schilderung der obsessiven Liebe des jungen Aushilfslehrers Henrik zu einer dreizehnjährigen Schülerin kritisiert wurde und wiederum eine Diskussion über die Trennung von Werk und Autor anstieß.
Jetzt aber hat Knausgård mit "Der Morgenstern" einen neuen Roman verfasst, ausufernd wieder mit fast 900 Seiten, doch anders als das, was seine Anhänger von ihm gewohnt sind, wie man bei der Lesung im Schauspiel Frankfurt am 7. April erfahren kann, wenn Knausgård sein Werk im Gespräch mit Andreas Platthaus, Leiter des Ressorts "Literatur und literarisches Leben" der F.A.Z., vorstellt: Nicht um Karl Ove soll es im neuen Buch gehen, den seine Leser so gut kennen und dessen Beschreibungen sie fast süchtig folgten. Nicht über sich schreibt Knausgård dieses Mal, sondern über fiktive Figuren.
Es sind neun an der Zahl, ganz unterschiedliche Menschen, aus deren Perspektive er wechselnd erzählt, in gewohnt intensiven Schilderungen, die dem Leser unangenehme Details nicht ersparen. Da gibt es zum Beispiel den Literaturprofessor Arne, der mit seiner Familie den Sommer am Wasser verbringt und sich um seine psychisch labile Frau und die Kinder kümmern muss. Es gibt die Pastorin Kathrine, die feststellt, dass sie mit ihrem Mann nicht mehr so weiterleben möchte wie bisher. Es gibt den jungen Emil, der in einer Kita aus Versehen ein Kind beim Wickeln fallen lässt und dies aus Angst verschweigt. Jostein, der zum Kulturjournalisten degradiert wurde und gerne wieder für die Politik schreiben würde.
Mitunter verbindet die Figuren Freundschaft oder eine Begegnung. Besonders interessiert sich Knausgård aber für die wundersamen Begebenheiten, die ihnen widerfahren, seit dieser neue Stern, der Morgenstern, am Himmel aufgetaucht ist. Tiere verhalten sich seltsam, Tote zeigen sich und sprechen mit Lebenden. Und über allem liegt etwas Bedrohliches. Jederzeit, so vermittelt es Knausgård, könnte etwas Schreckliches geschehen. Furchtbares geschieht immer wieder. Und doch ist mit dem Tod noch lange nicht alles vorbei. Dass ein rationalistisches Weltbild nicht alle Phänomene hinlänglich zu erfassen vermag, davon spricht der Stern zu denen, die ihn verstehen. Immer neue Fährten legt Knausgård dazu aus, lässt die Spannung steigen. Dass man in einigen Figuren den Autor erkennen zu können glaubt, seine Stimme und Anklänge an seine Biographie, ist keine Überraschung. Vor seinen Lesern kann sich der norwegische Schriftsteller nicht mehr verstecken. Dazu kennen sie ihn zu gut.
Karl Ove Knausgård liest auf Einladung des Literaturhauses Frankfurt am 7. April um 19.30 Uhr im Schauspiel.
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