Besprechung vom 19.01.2021
Mein Spiegelbild warst immer du
Kaska Brylas philosophisch-allegorischer Roman über die epischen Kämpfe im Inneren einer Depression
Auf den ersten Blick, den auf den Plot, scheint ein Roman wie Leif Randts "Allegro Pastell" kaum etwas mit Kaska Brylas Debütroman "Roter Affe" gemein zu haben: dort ein emotional abgeklärt durch das fast schon bedrückend liberale Kultur- und Partyleben der Berliner Republik treibendes Pop-Design-Liebespaar, das einen nirwanaähnlichen Zustand interesselosen Wohlgefallens erreicht zu haben scheint, hier eine Borderline-Road-Novel, in der eine mit manischem Einsatz um die Seele eines verloren durch einsame Dunkelheit stapfenden Kindheitsfreundes kämpfende Retterin und Rächerin (namens Mania!) gegen die Zeit und gegen den Tod von Berlin über Wien nach Warschau rast. Und das doppelte Trauma des Kindheitsfreunds Tomek - seine Mutter, eine Künstlerin, hat sich früh das Leben genommen; er selbst wurde von einem älteren Mitschüler missbraucht - ist bei weitem nicht das einzige in Brylas Roman, der mit leicht anstrengender Vehemenz die ganz großen moralischen Fragen ins Bild wälzt. Schuld, Verlust und Depression stehen im Zentrum, was schon andeutet, dass es im Kern um eine Ökonomie des Ethischen geht, um Auf-, Ab- und Umrechnungen.
Trotzdem sind die beiden Bücher einander so nahe wie die Wahlgeschwister Mania und Tomek, porträtieren sie doch dieselbe Generation und ihre energische Glückssuche mit ganz ähnlichen Mitteln, indem sie eine unbedingte Gegenwärtigkeit dialogisch ins Hochreflexive potenzieren. Das Ergebnis ist ein teils traum-surreal anmutender Hyperrealismus, der sich die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit - in diesem Fall etwa in Bezug auf die Hackerin Ruth, Manias beste Freundin, oder einen erstaunlichen Einsatz der Hündin Sue - durchaus erlauben darf.
Im Roman der Wiener Autorin, die zwischen Österreich und Polen aufwuchs und nach einem Volkswirtschaftsstudium das Leipziger Literaturinstitut absolvierte, sprechen die Protagonisten in jener manchmal manieriert anmutenden, immer aber durchreflektierten kontrollierten Sprache, mit der auch die Helden Randts ihr tägliches Leben obsessiv in eine Art mentales Simultanprotokoll überführen. Hier freilich klingt es deutlich psychologischer, so etwa: ",Das ist', begann Ruth, und Mania schien es, als kämen die Worte ihrer Freundin von einem anderen Ort, als dem, den sie gerade physisch miteinander teilten, ,als wäre ich all die Jahre vor einem Spiegel gestanden und mein Spiegelbild bist immer du gewesen. Und jetzt trete ich hinter den Spiegel, der nur eine gewöhnliche Scheibe ist. Da stehst du. Einfach du. Ich sehe nur dich. Und du hast nichts mit mir zu tun.'"
Während die in Personalperspektive geschilderte, auf olympisch-auktoriale Überblicke weitgehend verzichtende Handlung voranschreitet, erschließt sich nach und nach die tragische Vorgeschichte. Dieses Kreisen um einen dunklen Kern, der kein Geheimnis ist, sondern eine Verdrängung, macht einen guten Teil des Reizes aus. Hier sei daher nur das Nötigste angeführt: Mania, inzwischen Psychologin, hat die letzten Jahre in der JVA Moabit just jenen Täter therapiert, der Tomek und nicht nur ihn missbrauchte. Mania aber hielt sich an kein Psychologen-Ethos. Um die Spuren des eigenen Handelns - eine David-Tat gegen den Goliath Gewaltherrschaft oder doch nur Selbstjustiz? - zu verwischen, braucht sie nun die Hilfe der Wiener Freundin Ruth, die sich als Hackerin "maniac" nennt. Zeitgleich erfahren die beiden, dass Tomek verschwunden ist.
Er hat allerdings Aufzeichnungen hinterlassen, einen Hilferuf. Daraus geht hervor, dass sich Tomek so sehr auf eine depressiv-suizidale Frau namens Marina eingelassen hat, dass sein Trauma wieder aufbrach und er nun selbst in Lebensgefahr schwebt. Ein Jahr hatte er sich ausbedungen, um die Geliebte vom Wert des Lebens zu überzeugen, ein postmodern-faustischer, aussichtsloser Pakt. Jetzt greift die Nacht auch nach ihm, während er an sein Versprechen gebunden ist, Marinas Abschied zu unterstützen. Die Namensähnlichkeiten sind kein Zufall. Die Frauenfiguren erscheinen mehr und mehr wie Allegorien der Seelenzustände eines wehrlos zwischen Todes- und Liebestrieb pendelnden, durch Gewalt versehrten Menschen. Auch die Zeitebenen verschwimmen, denn die letzten Stunden mit Marina (oder eben sich selbst) verbringt Tomek in einem verlassenen Keller in Polen, in dem er einmal glücklich mit Mania war. Seine Aufzeichnungen bilden einen eigenen Erzählstrang, in dem die Autorin die Leser sensibel ins Innere einer Depression führt, ins Widersprüchliche und Rettungslose, wo alle analytische Klarsicht nicht davor bewahrt, dennoch immer tiefer ins Kellerdunkel zu kriechen.
Die Frauen eilen zur Rettung Tomeks. Mit philosophischer Verve werden derweil Fragen der Moral diskutiert. "Empathie ist die notwendige Bedingung von Sadismus", heißt es, und das Böse wiederum sei eine Voraussetzung für das Gute, das sich von ihm abzusetzen habe. Ist es bei diesem ewigen Kreislauf ("Die Geschichte hört nicht auf, nur weil wir nicht hinsehen und versuchen, glücklich zu sein") überhaupt möglich, sich auf eine der Seiten zu schlagen? Selbst wenn es das Gute gibt, kann es gute Menschen geben? Leichtigkeit scheint sich der Roman auch sonst zu verbieten. So wurden weitere gravitätische Themen angeflanscht: die politische Misere Polens - nach dem verheerenden Kommunismus vom westlichen Kommerz überrollt und ängstlich vermeintliche Werte verteidigend, ein "Kampf auf Kosten der Minderheiten" -, der Antisemitismus heutiger (osteuropäischer) Gesellschaften (Ruth ist Jüdin), die Verlorenheit von Migranten (ein als Kleindealer in Wien lebender, handlungstechnisch recht redundanter syrischer "Refugee" namens Zahit ist ohne Tomek weitgehend aufgeschmissen, muss sich aber an starke Frauen, zumal jüdische, erst gewöhnen).
Bei aller thematischen Überfrachtung und trotz arg vieler Stimmungsadjektive wie "widerwillig", "abschätzig" oder "belustigt" ist Kaska Bryla ein philosophisch hintergründiger, sprachlich-symbolisch souveräner und psychologisch intensiver Roman gelungen, der in seinem alle Innerlichkeit und alles dunkle Pathos begleitenden Beharren auf einer haptisch greifbaren Diesseitigkeit - schlichter gesagt: einer äußeren Handlung, die sich weigert, in der Allegorie aufzugehen - zum manischen Realismus gezählt werden darf, dem spannendsten Untergenre der Gegenwartsliteratur. Das übermächtige Gefühl der lähmenden Schwermut mit einer popkulturellen Referenz zu kodieren - dem ewigen Angriff des Nichts aus der "Unendlichen Geschichte", dem Gegenteil von Endlichkeit also - führt sogar zu einem kleinen Riss im Panzer der Depression, lässt das Licht herein. Das auf ganz eigene Weise wütende Buch findet so doch noch zu einem verhalten hoffnungsvollen Finale, indem es uns vor Augen führt, dass auch in einer von Gewalt seelisch verletzten Welt die Kraft der Freundschaft groß genug sein könnte, um das fatale Locken der schwarzen Nacht zumindest für eine Weile abzuwehren.
OLIVER JUNGEN
Kaska Bryla: "Roter Affe". Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2020. 232 S., geb.
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