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Besprechung vom 05.11.2024
Tief in der Erdkruste
Kate Crawford legt einen KI-Atlas vor
Vor dreißig Jahren, zu Beginn der "New Economy"-Ära, galten Computer als saubere Technologie. Jede zum Wachstum notwendige Expansion fände in einem virtuellen Raum statt, dessen materielles Substrat, das Silizium, buchstäblich wie Sand am Meer verfügbar sei, man werde es bei der Wertschöpfung nicht mehr mit Materie zu tun haben, sondern mit Bits, wie man seinerzeit in Bestsellern wie Nicholas Negropontes "Being Digital" (1995) nachlesen konnte.
Die Medienwissenschaftlerin und KI-Expertin Kate Crawford widerspricht diesem Gedanken in ihrem Buch "Atlas der KI". Sie lehnt die Phantasien einer Transzendenz des "Cyberspace" als Verblendungswerk ab und will zeigen, wie tief die Computerbranche in der Erdkruste verankert ist, welche Rohstoffe und wie viel Energie sie verbraucht: "Indem ich hier das Bild des Atlas bemühe, möchte ich ausdrücken, dass wir neue Wege brauchen, um die Imperien der künstlichen Intelligenz zu verstehen." Benötigt werde eine "Theorie der KI, die die Staaten und Unternehmen benennt, die ihre Entwicklung vorantreiben und sie dominieren, den Abbau von Bodenschätzen berücksichtigt, der seine Spuren auf dem Planeten hinterlässt, sowie die massenhafte Datenerhebung und die zutiefst ungleichen und zunehmend ausbeuterischen Arbeitspraktiken mitbedenkt, die sie in Gang halten".
Crawford arbeitet vor allem die Erdgebundenheit und Kontinuität der Management- und Herrschaftspraktiken heraus, die sich aktuell hinter dem weit gefassten Begriff der "Künstlichen Intelligenz" verbergen. Schon das Konzept der selbständig denkenden Maschine sei in der Geschichte immer wieder falsch interpretiert worden, vom Rokoko-Trick der menschlich besetzten Puppe eines Schach spielenden Türken über Joseph Weizenbaums Chatbot-Karikatur "Eliza" bis hin zu heutigen Serviceplattformen, die sich als autonome künstliche Intelligenzen präsentieren, tatsächlich aber von billigen Arbeitskräften in Staaten der südlichen Hemisphäre betrieben werden.
Auf ihren Reisen durch die USA erlebt Crawford, dass gegenwärtige Praktiken der IT-Industrie nur verfeinerte Methoden des klassischen Brachial-Kapitalismus darstellen. Sie besucht aufgelassene Goldgräberstädte ebenso wie eine Lithium-Mine und verweist auf die zerstörten Landschaften, die der Bergbau hinterlässt. In den wie Roboter von den Softwaresystemen in ihren Lagerhäusern gegängelten Amazon-Arbeitern sieht sie Nachkommen der Fließbandarbeiter, neben denen Frederick Winslow Taylor mit seiner Stoppuhr stand, um jede Bewegung optimieren zu können.
Elegant zeichnet die Autorin die Geschichte einzelner Datensätze nach, die in verschiedener Form seit den Achtzigerjahren zum Training diverser KI-Algorithmen herangezogen und dem jeweiligen Zeitgeist angepasst, erweitert und umgeschrieben wurden, weshalb auch neue Anwendungen die Kategorien und Diskriminierungen vergangener Zeiten mit sich bringen - wohl der interessanteste Teil des Buchs und auch einer der wenigen konkreten Ansätze zur Analyse der Blackbox "KI". Crawfords Fazit: "Die KI ist im 20. Jahrhundert als bedeutendes öffentliches Projekt gestartet und wurde rückhaltlos privatisiert, um einen riesigen finanziellen Gewinn für die winzige Minderheit zu produzieren, die an der Spitze der Extraktionspyramide steht."
Im Original wurde "Atlas der KI" 2021 veröffentlicht, also im Zeitempfinden der IT-Branche vor einer halben Ewigkeit. Seither haben sich die von Crawford aufgezeigten Probleme eher noch verschärft, so haben Microsoft, Google und Amazon im Herbst 2024 angekündigt, ihre besonders energiehungrigen KI-Datencenter künftig mit Atomstrom füttern zu wollen. Crawfords Arbeitgeber Microsoft, der, anders als Amazon und Google, in ihrem Buch kaum vorkommt, integriert seine KI-Dienste unterdessen immer tiefer in seine Produkte.
In seiner Faktendichte und konsistenten Argumentation erklärt "Atlas der KI" auch indirekt, weswegen viele Silicon-Valley-Figuren wie Elon Musk oder Peter Thiel Donald Trump unterstützen. Wer den darin beschriebenen Weg der Monopolisierung und Ausbeutung weiter beschreiten will, sollte besser die Demokratie abschaffen, bevor die breite Mittelschicht merkt, was da passiert. GÜNTER HACK
Kate Crawford: "Atlas der KI". Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien.
Aus dem Englischen von Frank Lachmann. C. H. Beck Verlag, München 2024. 336 S., Abb., geb.
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