»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess
»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.
Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Besprechung vom 03.08.2023
Das Gericht ist kein Ort der Trauer
Kathrin Rögglas Roman "Laufendes Verfahren" spielt beim NSU-Prozess auf der Zuschauerbank - als ein Sittenbild von Gesellschaft und Justiz.
Was ist das für ein Roman, in dem die handelnden Personen Namen tragen wie Grundsatzyildiz, Gerichtsopa, Bloggerklaus oder Omagegenrechts? Einer, der typisiert. Aber auch einer, der ansonsten keine Namen nennt, obwohl er zur Handlungsgrundlage eines der spektakulärsten (und deshalb bekanntesten) deutschen Gerichtsverfahren hat: den NSU-Prozess, der in München vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 mit 438 Verhandlungstagen stattfand und in In- und Ausland ein gewaltiges Medienecho fand. Zu Recht, waren von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU doch in den Jahren von 2000 bis 2007 zahlreiche Anschläge begangen worden, bei denen zehn Menschen ermordet wurden. Auf die Spur kamen die Ermittler den drei Haupttätern erst, als diese 2011 ihre Unterkünfte abbrannten, wobei zwei starben. Die überlebende dritte Täterin und ihr Unterstützerumfeld waren in München angeklagt. Und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand dort auch das Versagen der Ermittler vor Gericht.
Ein ernstes Thema, eines, das die Republik (zumindest deren rechtsstaatsgläubigen Teil) in ihren Grundfesten erschüttert hat. Und darüber ein Roman mit Figuren, deren Bezeichnungen man als frivol ansehen könnte? Kathrin Rögglas gerade erschienenes "Laufendes Verfahren" ist indes alles andere als das. Die 1971 geborene österreichische, für fast drei Jahrzehnte in Berlin und heute in Köln lebende Schriftstellerin ist - was man dem Abstand ihrer Publikationen ablesen kann - eine höchst skrupulöse Autorin. Ihr letzter Prosaband, "Nachtsendung", liegt sieben Jahre zurück. Kein Wunder, denn damals und in der Zwischenzeit saß sie selbst immer wieder dort, wo ihr neuer Roman nun spielt: im Zuschauerraum des Sitzungssaals 101 des Oberlandesgerichts München.
München - das ist phonetisch ganz nahe an Münchhausen, aber dazwischen liegen Welten. Münchhausen, so ist ganz am Ende des Romans zu lesen, steht fürs Geschichtenerzählen: "Wo die Welt als eine Ansammlung an skurrilen Ereignissen und Begebenheiten erscheint, wo einem Dinge einfach zufällig zustoßen und nicht etwa geplant und eingerichtet. Ein herrlicher Ort." Das Gegenteil dessen, was der NSU-Gerichtssaal darstellt.
In ihn treten wir (und das ist Rögglas Erzählperspektive: "wir", aber nicht als Pluralis Majestatis, sondern als Verkörperung des Kollektivs der Prozessbeobachter) mitten im laufenden Verfahren, und Stellen wie der folgenden liest man die Vertrautheit Rögglas mit dem Besuch der Verhandlungen ab: "Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird." Das Wiederholungsprinzip ist auch eines der Stilmittel im Roman "Laufendes Verfahren".
Er ist jedoch nicht redundant, es passiert immens viel - es steht ja das ganze Land vor den Schranken des Gerichts, mitangeklagt und/oder als Beobachter. Und die im Roman namenlosen Akteure des Prozesses ("die Person mit den Haaren", "Tätervater", "Vorsitzender") treten wortlos auf, denn alles, was gesprochen wird, ist gefiltert durch die Wahrnehmung der Zuschauer. Röggla war schon immer eine genaue Analytikerin der medial vermittelten Gesellschaftsordnung, nicht umsonst gewann sie 2020 mit ihrem Essay "Bauernkriegspanorama", in dem sie über die seit Ende der Achtzigerjahre (ihrem eigenen Einstieg in die intellektuelle Welt) gewandelten Sprecherpositionen nachdenkt, den hoch dotierten Wortmeldungen-Preis. Für "Laufendes Verfahren" ist ihr schon vor Erscheinen des Romans der diesjährige Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zugesprochen worden, der dezidiert einem politischen Verständnis von Literatur gilt.
Wer nun befürchtete, dass es abstrakt und thetisch zugeht in Rögglas Buch, der täuschte sich. So bedeuten die charakterisierenden Namen der Personen auf der Zuschauertribüne keine Anonymisierung dieser Figuren, sondern eine Konkretisierung: Bereinigt um ihre bürgerlichen Namen, treten sie aus dem Kontext des staatlich verfassten Justizsystems heraus und gehen ganz in ihrer Rolle als Repräsentanten auf, die deshalb auch typisiert sprechen können. Im Laufe des zweihundertseitigen Geschehens - auch das eine Kunst: fünf Jahre auf diesen Prosaumfang zu verdichten - lernen wir sie mit ihren Marotten und Manierismen lieben, sie werden Vertraute selbst dann, wenn uns ihre Einstellungen zum Prozess nicht sympathisch sein sollten - und so viel sei gesagt: An irgendeinem aus Rögglas Personal wird sich jeder Leser reiben. Doch alle tragen Mosaiksteinchen zum Romangeschehen bei, das eine Beobachterin allein nicht würde erzählen können: "Wir werden uns ablenken lassen. Wir werden plötzlich an den Kyffhäuserkreis denken und an Nordthüringen, aber Baden-Württemberg nicht auf dem Kieker gehabt haben, wir werden beim Baden-Württembergischen Untersuchungsausschuss nicht anwesend gewesen sein und auch nicht beim Thüringischen; 'schon wieder habt ihr nicht aufgepasst', informiert uns der Bloggerklaus, 'schon wieder wisst ihr nicht, was los ist'." Das Beharren auf ihren jeweils subjektiv wahren Blicken ist ein wiederkehrendes Motiv der typisierten Prozessbesucher. Bisweilen ist das sogar komisch. Wie wohl jeder Blick ins Intimleben, auch in das eines Prozesses.
Warum auch nicht? Denn das, was so viele Beobachter, Kommentatoren und vor allem Angehörige der Opfer sich vorgestellt haben: dass Trauerarbeit geleistet werde, das widerspricht dem Charakter der Institution Recht. "Wie bekommt man sie ins Gericht hinein, die Trauer, beginnen wir uns zu fragen. Das Gericht ist kein Ort dafür, es gibt hier keine Gesten, die diesbezüglich zuzuordnen sind, und wenn sie doch kommen, werden sie vom Richter schnell unterbrochen, ja, abgebrochen." Kathrin Röggla hat den Rechtsstaat und dessen Grenzen nicht auf den Begriff, aber auf einen Roman gebracht. ANDREAS PLATTHAUS
Kathrin Röggla:
"Laufendes Verfahren". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 208 S., geb.
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