Besprechung vom 23.11.2023
Der Tod ist ein schamloser König
Als hätte Marcel Proust einen Thriller geschrieben: Laurent Mauvigniers Roman "Geschichten der Nacht"
"Konkret passiert nicht viel: ein Tisch, eine Frau, drei Männer und ein Kind, das Apfelsaft trinkt", teilt der Erzähler des Romans lakonisch mit und rückt so seine seltsam ereignisarm mäandernde Geschichte ein Stück weiter in Richtung Abgrund. Besagte Frau namens Marion, die selbstbewusste und aufsehenerregend attraktive Mutter der zehnjährigen Ida, ist eben noch im Kleinwagen laut singend von ihrem Job in der Druckerei der nächsten Stadt in den aus drei Häusern bestehenden Weiler mitten im Nirgendwo zurückgekehrt. Marion hat Grund zu guter Laune: Nicht nur hat sie ihren chauvinistischen Vorgesetzten souverän in die Schranken gewiesen, auch feiert sie an dem Tag, den dieser Roman erzählt, ihren vierzigsten Geburtstag.
Auch ihr Mann Patrice sitzt mit am Tisch, ein Bauer und Käser in Existenznöten, der auch nach zehn Jahren Ehe nicht begreift, was diese umwerfende Frau gerade "bei einem Typen wie ihm verloren hatte". Die beiden anderen Männer in der Runde sind Christophe und Denis, zwei bedrohlich verschlagen wirkende Brüder, von denen man eigentlich kaum etwas weiß, aber Schlimmstes vermutet. Klar ist nur, dass der Jüngste ihrer Sippschaft, Bègue, der "Stotterer", vier Jahre in der Psychiatrie verbrachte und kurz vor dem gespenstischen Beisammensein am Geburtstagstisch den Hund der Nachbarin Christine getötet hat und diese nun mit dem blutigen Messer in der Hand bedroht.
Was das alles zu bedeuten hat? Eine berechtigte Frage, die jeden bannen muss, der dieses Buch einmal zur Hand genommen hat. Laurent Mauvignier führt in seinem zwölften Roman - dem fünften, der auf Deutsch erscheint - meisterhaft vor, dass eine literarische Erzählung ebenso wenig eine konkret nachvollziehbare Handlung benötigt wie Musik nachsummbare Melodien, um zuweilen dennoch oder gerade deshalb eine spektakuläre Wirkung zu entfalten. Mauvignier hatte sich schon zuvor etwa in der Erzählung "Was ist ein Leben wert?" über einen Ladendiebstahl mit Todesfolge oder im Episodenroman "Mit leichtem Gepäck" über die Einsamkeit in der hoffnungslos vernetzten Gegenwart als ein geradezu obsessiver Beobachter und Analyst zwischenmenschlicher und sozialer Beziehungen und ihrer Dynamiken erwiesen.
In "Geschichten der Nacht" führt er diese Weltschau der psychologischen Mikroskopie nun weiter und überführt sie in einen Erzählstil, den man als "Zeitlupenliteratur" bezeichnen könnte. Mauvigniers ausschweifende, dabei nie überfrachtete und von Claudia Kalscheuer kongenial übertragene Satzgefüge spüren den Innenwelten der Figuren bis hin zur kleinsten Regung und ihrem Ursprung nach, seien es Emotionen, Erinnerungen oder die Geräusche, Farben und Gerüche der Gegenwart. Von der scheinbar nüchternen Beschreibung der Szenerie kippt die Erzählung immer wieder in die wie im Tagtraum schwebenden Bewusstseinsabläufe der Figuren und erzeugt damit eine klaustrophobische Unmittelbarkeit.
Davon, dass man es bei "Geschichten der Nacht" mit einem wahrlich außergewöhnlichen Roman zu tun hat, zeugen auch die zuweilen etwas hilflos wirkenden Reaktionen vor allem derjenigen Kritiker, die meinen, dass man in Mauvigniers "qualvoll langsamem Dorf-Thriller" nichts von der Innenwelt der handelnden Personen erfahren dürfe, weil sonst ja das Geheimnis des Geschehens gelüftet würde. Wie, bitte? Die Dichotomie zwischen den intimen Gedankengängen der Figuren und dem, was an der Weltoberfläche sichtbar ist, macht doch gerade die zwingende Wirkung dieser Literatur aus. Noch nie etwas gehört vom nouveau roman der Nachkriegszeit, in dem es doch gerade darum ging, durch die totale Subjektivierung der Perspektive die Weltbeschreibung besonders wirklichkeitsnah zu gestalten? Autoren wie Tanguy Viel, Vincent Almendros, Julia Deck und eben Laurent Mauvignier überführen in ihren raffiniert doppelbödigen Romanen diese Tradition des Verlagshauses "Éditions de Minuit" in die sozialen Gefüge der Gegenwart.
Aber kehren wir zurück zum Weiler, in dem der Tod an diesem Tag "wie ein schamloser König" Einzug halten wird. Er trägt den klingenden Namen "Écart des Trois Filles Seules" (Nische der drei einsamen Mädchen), und hier, inmitten der France profonde, leben tatsächlich drei Frauen, die jede auf ihre Weise einsam sind: Die zehnjährige Ida, die innerhalb weniger albtraumhafter Stunden lernt, dass die Welt der Erwachsenen und auch die ihrer Eltern anderen Gesetzen gehorcht, als man sie bisher glauben machen wollte, und sie in letzter Konsequenz nur auf sich selbst zählen kann. Dann ist da besagte Nachbarin Christine, eine Malerin aus Paris, die vom Geld ihres reichen Ex-Gatten in selbst gewählter Abschottung von den Heucheleien der Kunstszene auf dem Land weitermalt, ohne sich jemals wieder von wem auch immer demütigen zu lassen. Einsam ist auch Marion, die sich, um von ihrer zerrütteten Familie, ihrer kriminellen Vergangenheit und ihrem narzisstisch-tyrannischen Lebensgefährten loszukommen, ein neues Leben erfinden musste, hinter dessen Kulissen sie - bis zu ebendiesem Geburtstag - nicht einmal ihre engsten Freundinnen, geschweige denn ihren gegenwärtigen Ehemann Patrice blicken ließ.
Zu diesen drei mit wenigen, aber scharfen Linien gezeichneten weiblichen Figuren gesellen sich vier Männer, die jeder für sich eine persönliche Rechnung offen haben mit der Welt. Dass es zur Eskalation kommen muss, schwingt in diesem Roman von der ersten Zeile an mit, allerdings zögert Mauvignier den Augenblick der Erkenntnis, wer hier eigentlich gegen wen kämpft, wieso das Wesentliche unausgesprochen bleibt und welche üble Geschichte sich hinter der Maskerade der Figuren verbirgt, bis zur Höchstspannung hinaus. Alles bleibt zunächst bei spärlichen Andeutungen, wird langsam zur Ahnung, dann zur Vermutung und schließlich zur grauenvollen Gewissheit, noch bevor die Figuren auf ihrer Fahrt hinab in die Hölle selbst in der Lage sind zu verstehen, wie ihnen geschieht. Den Plot dieses meisterhaft komponierten Romans zu verraten hieße, ihn ganz auf sein literarisches Konzept zu reduzieren. Nur so viel: Mauvignier schaut nicht nur Menschen beim Denken, beim Kämpfen und beim Verlieren zu, sondern auch Pistolenkugeln auf ihrem Weg zum Ziel. Er zerlegt unterbewusste Wahrnehmungen, Interpretationen und Assoziationen, die im realen Leben nur einen Sekundenbruchteil einnehmen, in kleinste Einzelteile und setzt so fast wie bei einer literarischen Kernspaltung ungeahnte Energien frei. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Laurent Mauvignier: "Geschichten der Nacht". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz,
Berlin 2023. 510 S., geb.
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