In Gästebuch erkundet eine der originellsten Erzählerinnen und Künstlerinnen der Gegenwart die gleichermaßen flirrenden wie verstörenden Ereignisse, die Menschen im Leben heimsuchen können, von denen sie sich aber kaum zu erzählen trauen. Ein Tennis-Wunderkind kollabiert nach jedem gewonnen Match und schreibt den Sieg einer unsichtbaren, nicht ganz wohlwollenden Existenz zu. Eine Frau kehrt mit einem seltsamen Gefühl von einer Besichtigung der ehemaligen Gefängnisinsel Alcatraz zurück. Der Geist eines Gefangenen habe sich an sie geheftet, behauptet eine Freundin. Er habe ihr Mitleid für seinesgleichen gespürt. Ein Mann in einem blauen Anzug taucht auf zahllosen Society-Events überall in der Stadt auf - am selben Tag, zur selben Zeit.
Leanne Shapton komponiert zahlreiche solcher Geschichten und Erinnerungen mit anderem Material - zufällig vorgefundenen Fotografien, eigenen Zeichnungen, Instagram-artigen Porträts - zu einem vielschichtigen Kuriositätenkabinett und verwandelt damit die klassische Geistergeschichte in etwas völlig Neues.
Besprechung vom 22.11.2020
Gespenster an Heiligabend
Es gibt in diesem Buch der kanadischen Künstlerin, Schriftstellerin und Illustratorin Leanne Shapton, das keinen echten Anfang hat und kein Ende, sondern eher so etwas wie eine Spurensuche ist, die zugleich selbst Spuren legt und uns zu Detektiven macht, eine "Heiligabend"-Erzählung: "Am Vorabend, dem Dreiundzwanzigsten", so beginnt diese Geschichte, "wurde auf der Party über Geister gesprochen. Sie fragte den Oscar-Preisträger, ob er an Geister glaube und ob er eine Geistergeschichte auf Lager habe. Er schüttelte den Kopf, setzte sich und unterhielt sich mit jemand anderem. Ihr kam der Gedanke, dass Geister vielleicht kein gutes Thema für Cocktail-Party-Smalltalk waren und dass es auch Geschichten gab, über die man nicht bei Kanapees plaudern konnte."
Für ihr fabelhaftes "Gästebuch" hat Leanne Shapton nun solche "Gespenstergeschichten" versammelt, die sie gefunden hat - und sie hat neue erschaffen: Anekdoten von Erscheinungen, Geschichten von unheimlichen Häusern und ungebetenen Gästen, eine Schwarzweißfoto-Story über ein geheimes Treffen von Freunden in Ruinen; Berichte über seltsame Tode. Es sind einerseits Geschichten, die dem Gruselgenre nachempfunden sind. Manche erinnern vom Verfahren her an Geisterfotografien, wie sie in der Frühzeit der Fotografie durch lange Belichtungszeiten erzeugt wurden: Personen, die kurz in den Bildraum hineintraten, wurden wie übernatürliche Effekte als Schemen auf dem fertigen Foto dargestellt. Und dann gibt es Berichte von modernen Geistern wie die über den fiktiven Prominenten Edward Mintz, der es am Freitag, dem 2. November 2018, schafft, auf 45 Partys, Empfängen und Promi-Events gleichzeitig zu sein: von einem "privaten Abendessen für Lucien Pak im Terro New York" über das "Croix d'Espagne Dinner im Spanish Cultural Council" bis hin zur "Ankunft auf dem roten Teppich vor der Alice Tully Hall". "Ein Geist" heißt diese Geschichte, die die lustigste des ganzen Buches ist. Shapton hat ihre Freunde und Bekannten in den Rollen verschiedener Prominenter und Halbprominenter fotografisch in Szene gesetzt - und analysiert die so unwahrscheinliche Realität zeitgenössischer Instagram-Stars.
Julia Encke
Leanne Shapton: "Gästebuch - Gespenstergeschichten". Suhrkamp Verlag. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 320 Seiten
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