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Besprechung vom 27.09.2023
Wenn die Vernunft Fragen stellt, die sie nicht beantworten kann
Je schwieriger, desto interessanter: Marcus Willaschek führt kundig und elegant durch alle wichtigen Themenfelder im Werk Immanuel Kants
Als Kopernikus 1543 die Erde aus dem Mittelpunkt unseres Planetensystems entfernte und die Sonne an ihre Stelle setzte, vollzog er nicht nur den entscheidenden Schritt zur modernen Astronomie, er veränderte auch unser Denken: Erst die Aufgabe der gewohnten Perspektive ermöglichte das neue Weltmodell. Daran orientierte sich Immanuel Kant, dessen Neubestimmung der Reichweite menschlicher Erkenntnis, wie er sie in seiner "Kritik der reinen Vernunft" 1781 in erster Fassung vorgelegt hat, der Revolution des Kopernikus in nichts nachsteht.
Auch Kant hat einen Perspektivenwechsel kopernikanischer Art vollzogen: War man bis dahin davon ausgegangen, unsere Erkenntnis folge rezeptiv den Gegenständen, kehrte Kant dieses Verhältnis um: Die Objektivität unseres Erkennens beruht auf Leistungen unserer Subjektivität, die uns allen gemeinsam sind. Wir begreifen die Welt nur "aus dem Standpunkte eines Menschen".
Diese Neubestimmung unseres Wirklichkeitsbezugs ist nur eine wesentliche Erkenntnis in seinem Werk. Es gibt kaum einen Bereich, zu dem Kant nicht innovativ publiziert hat: Seine Schriften zur Politik, angefeuert von der Französischen Revolution, haben gedanklich vorbereitet, was später in der Institution der Vereinten Nationen verwirklicht wurde. Kant war ein Wegbereiter eines moralischen Kosmopolitismus und Weltbürgertums. Sein Rechtsverständnis prägt unser heutiges politisches Gemeinwesen. Doch auch zur Pädagogik, zur Psychologie und Ästhetik hat sich Kant fundiert geäußert.
Epochal ist seine Moralphilosophie mit dem zentralen Motiv der Menschenwürde, umstritten seine Anthropologie, die nicht frei von sexistischen und rassistischen Äußerungen ist. Nicht zu unterschätzen sind seine vielen naturwissenschaftlichen Beiträge, etwa zu Kosmologie und Biologie. Kant hat in vielerlei Hinsicht unser modernes Selbst- und Weltverständnis grundiert. Dennoch gehört er jenseits der philosophischen Zunft zu den ungelesenen Klassikern. Eine eigenwillige Terminologie und Diktion erweisen sich als hinderlich.
Nun erschließt Marcus Willaschek dieses intellektuelle Hochgebirge. Er versucht erst gar nicht, die maßgebliche Biographie von Manfred Kühn von 2003 zu übertreffen. Vielmehr stellt er in dreißig bündigen Kapiteln seines Buches sämtliche Themenfelder von Kants Denken in systematischer Ordnung vor. Die Entscheidung, dem Werk den Vorrang vor der Biographie einzuräumen, darf man als glücklich betrachten: Vom Zwang der Lebens- und Werkchronologie befreit, kann Willaschek Kants Denken nach Sachthemen auffächern: Politik und Geschichte, Moral, Gesellschaft, Anthropologie, metaphysische Erkenntnis und ihre Grenzen. Bei alldem sind es drei Motive, die sich als leitend erweisen: die schon angesprochene Objektivität des menschlichen Standpunkts, der Vorrang der Praxis vor der Theorie und Kants Versuch, wiederholt zwischen gegensätzlichen Positionen zu vermitteln.
Auf Prägnanz bedacht, lässt Willaschek lebensweltliche Details einfließen - etwa Kants Tischgesellschaften in Königsberg oder seinen späten Reichtum als Millionär -, so treten auch Person und Zeitumstände plastisch hervor. Spannender als das Leben ist in diesem Fall aber die Theorie. Und wo es am schwierigsten wird, wird es auch am interessantesten. Willaschek stellt Kants Überlegungen aus der "Kritik der reinen Vernunft" als größte Herausforderung an das Ende seines Buches. Er skizziert die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und erläutert die Eigendynamik der Vernunft, Fragen aufzuwerfen, die sie sich nicht beantworten kann.
Man muss bewundern, wie sehr sich Willascheks Darstellung einem durch jahrzehntelange Forschung ausgebildeten Expertentum verdankt, wobei der Detailreichtum und die erreichte Reflexionstiefe an keiner Stelle einer eleganten Darstellung im Weg stehen. Der gebotene Panoramablick auf das umfangreiche und thematisch weitverzweigte Werk Kants ist eine Glanzleistung, von der auch jene profitieren werden, die mit Kants Werk nicht ganz unvertraut sind.
Willaschek will einen heutigen Kant präsentieren und spart nicht an Kritik, wo dessen Positionen überholt oder irrig sind. Dennoch entsteht auf der Zielgeraden des Buches mitunter der Eindruck, man stünde per se auf der richtigen Seite, wenn man Kantianer ist. Der Korrektur- und Weiterentwicklungsbedarf der kantischen Philosophie bleibt mitunter abgeblendet.
Kant hat die größte naturwissenschaftliche Revolution nach Kopernikus, Darwins Evolutionstheorie "Über die Entstehung der Arten" von 1859, nicht antizipieren können. Sie hat das Natur- und Selbstverständnis des Menschen so einschneidend verändert, dass heutige Autoren wie Michael Tomasello nach der Naturgeschichte der menschlichen Moral fragen. Kant bietet keine elaborierte Sprachphilosophie, wenngleich die Sprache schon zu seiner Zeit als entscheidendes Medium der Anthropogenese bei Herder und später Wilhelm von Humboldt in den Blick kam. Und im Feld des Politischen ist ein Denker wie John Rawls zwar von kantischen Grundannahmen ausgegangen, hat sie aber aufgrund der notwendig gewordenen Reflexion eines faktischen Weltbild- und Normenpluralismus kritisch weiterentwickelt.
Gegen Ende seines glänzenden Buches fordert Willaschek angesichts der erodierenden Gültigkeit von Menschenrechten, dem vielerorts gebrochenen Frieden und der gefährdeten Rechtsstaatlichkeit: "Es muss auf Kant zurückgegangen werden!" Aus philosophischer Perspektive wird man ergänzen dürfen: Und es muss mithilfe der sich behauptenden Einsichten Kants über Kant hinausgegangen werden! JÜRGEN GOLDSTEIN
Marcus Willaschek: "Kant". Die Revolution des Denkens.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 430 S., Abb., geb.
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