»Seid gegrüßt, o Erdlinge. Was sind diese Menschenrechte, von denen ihr sprecht?«
Scharfsinnig, witzig und hochaktuell: Antworten auf die »brennenden Fragen« unserer Zeit
In dieser lustigen, gelehrten, unendlich neugierigen und gespenstisch weitsichtigen Essaysammlung fragte die Kultur-Ikone Margaret Atwood:
- Warum erzählen Menschen aller Kulturen überall Geschichten?
- Wieviel kann man von sich presigeben, ohne zu verschwinden?
- Wie können wir auf unserem Planeten leben?
- Stimmt das? Und ist das gerecht?
- Was haben Zombies mit Autoritarismus zu tun?
In über fünfzig Texten richtet Atwood ihren erstaunlichen Intellekt und frechen Humor wie einen Scheinwerfer auf unsere Welt und berichtet uns dann, was sie dabei entdeckt. Die Achterbahn-Zeitspanne, in der diese Essays entstanden bescherten uns das Ende des Endes der Geschichte, eine Finanzkrise, den Aufstieg Donald Trumps und eine Pandemie. Ob zu Schulden oder zur Tech-Welt, zur Kilimakrise oder zur Freiheit, von der Frage, wann man der jüngeren Generation seine Weisheit überhelfen soll (nur wenn man gefragt wird) zur Frage was Granola eigentlich ist - es gibt niemand der bessere Fragen stellt zu den zahllosen so unterschiedlichen Fragen unseres menschlichen Universums.
»Brilliant und witzig« Joan Didion
»Sie nimmt sich unsere Zeiten vor und macht uns klüger dafür . « Ali Smith
»In der gesamten lesenden Welt werden die Geschichtsbücher auf der nächsten leeren Seite aufgeschlagen und obendrüber steht Atwoods Name. « Anne Enright, 'Guardian'
Besprechung vom 14.10.2023
Unser Lebensmittel ist Wahrheit
"Brennende Fragen", so der Titel: Margaret Atwoods Essays stammen von einer Frau, die Lösungen noch für möglich hält.
Von Katharina Teutsch
Von Katharina Teutsch
Jedes Kind, das in den Vierzigerjahren in Kanada aufwuchs, als es noch keinerlei Impfstoffe gegen eine ganze Heerschar tödlicher Krankheiten gab, kannte Quarantäneschilder", schreibt Margaret Atwood in einem Essay für die kanadische Tageszeitung "Globe and Mail". Wir befinden uns im Quarantänejahr 2020. Und Atwood, die siebzehn Jahre zuvor den ersten Teil einer verstörend hellsichtigen Seuchenromantrilogie ("MaddAddam") geschrieben hatte, setzt in aufgebrachten Majuskeln fort: "DIPHTERIE, stand darauf, SCHARLACH oder KEUCHHUSTEN. Der Milchmann (den gab es damals nämlich noch, und manchmal kam er sogar mit dem Pferdewagen) musste genau wie der Brotmann, der Eisenmann und der Postmann (ja, sie waren wirklich alle Männer) seine Ware auf der Schwelle lassen. Und wir Kinder standen im Schnee (Städte hießen für mich damals immer Winter, den Rest des Jahres verbrachte meine Familie draußen in den Wäldern), beäugten die rätselhaften Schilder und fragten uns, was hinter jenen Türen wohl für unheimliche Dinge vorgingen."
Vier ihrer Cousins seien an Diphterie gestorben, erzählt die 1939 in Ottawa geborene Bestsellerautorin spekulativer und darin immer politischer Romane. Und ab und zu sei von einem Tag auf den anderen ein Klassenkamerad verschwunden. Beide Eltern der inzwischen Dreiundachtzigjährigen wiederum hatten 1919 die Spanische Grippe überlebt. Atwood war das Pandemiethema also vertrauter als so manchem Zeitgenossen, dem Corona überhaupt erst die Gefahr mutierter Kleinstlebewesen ins Bewusstsein gebracht hat. Dass nun aufgeklärte Menschen in großen Mengen anfingen, sowohl die Existenz als auch die Gefährlichkeit des mutierten Virus infrage zu stellen, löste sofort den Widerspruch der Autorin aus. Die Virusleugnung nämlich kam Hand in Hand mit einem ganz anderen Virus. Fake News heißt es. Sein Wirtstier ist der faule Mensch. Seine Verbreitungswege sind bekannt.
"Im Zeitalter von Fake News und Internet-Bots ist Wahrheit manchmal nicht so leicht zu haben", stellt Atwood 2019 anlässlich der Verleihung einer Ehrenmedaille des Dubliner Trinity College fest. Und sie hat - das wird nach der Lektüre dieses in fünf Teile gegliederten Konvoluts von Vorworten, Festreden, Dankesreden, Laudationes und Zeitungsartikeln deutlich - ihr Lebenswerk in den Dienst ebenjener epistemologischen Kategorie gestellt, die uns immer mehr abhandenzukommen scheint: Die Wahrheit ist das Ziel aller in diesem Band versammelten Beiträge. Die Wahrheit ist eine Übung im Wahrnehmen und im Leben, wie Atwood seit mehr als sechzig Jahren nicht müde wird zu sagen. Die Wahrheit ist überhaupt das einzige Lebensmittel, mit dem sich menschengemachte Sackgassen im Sozialen und massive Eingriffe in die Natur auflösen oder zumindest bearbeiten lassen.
Atwood widmete schon zu Beginn des Jahrtausends etliche Texte dem Klimawandel, der damals noch nicht jedem unter diesem Schlagwort bekannt war. Ähnlich wie ihr Wissen um pandemische Gefahren war ihres über die Natur und deren Gefährdungen bereits zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, als der öffentliche Diskurs dazu noch eher dürftig ausfiel. Atwood, ländlich aufgewachsen, städtisch sozialisiert, mit einem Ornithologen verheiratet und Tochter eines Entomologen, weiß eine Menge über Bäume, Biotope, natürliche Lebensräume im Allgemeinen. "Andere Familien machten Zwischenstopps, um Eis zu essen", erinnert sie sich an ihre Kindheit: "Wir hielten für Schädlingsplagen."
Spannend in diesem Buch sind weniger die Erkenntnisse der einzelnen Texte, die sich oft an ein allgemeines Publikum richten, den Charakter von Appellen haben und selten komplexe Gedanken bieten. Interessant wird Atwoods essayistisches Werk erst durch die schiere Menge an Themen und Erfahrungen, die sie als politische Akteurin verarbeitet. "Brennende Fragen" ist der dritte Essayband der Autorin. Der erste setzte im Jahr 1960 ein, der zweite 1983. Der dritte beginnt im Jahr 2004. Legt man alles, was die Autorin veröffentlicht hat, nebeneinander, ergibt sich eine faszinierende Chronik der westlichen Kultur- und Naturgeschichte.
Die frühen Sechzigerjahre sind dabei noch sehr den Nachkriegslogiken der Systemkonkurrenz von Kommunismus und Kapitalismus sowie zeittypischen Spießigkeiten der Gesellschaft unterworfen. Ende der Sechziger geht es dann los mit jenen Themen, die Atwood berühmt gemacht haben: zweite Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung, kulturelle Revolution von 68, neues Umweltbewusstsein. Alles, wovon der erste Essayband handelte, wurde schon im zweiten überschrieben, um nun im dritten Band noch einmal evaluiert zu werden. Die Phase des kulturellen Aufbruchs wurde abgelöst von der kurzen Illusion, die Geschichte wäre vollendet und leergelaufen. Doch auch diese friedliche (oder zynische) Vorstellung wurde mit den Anschlägen auf das World Trade Center und den immer virulenteren Erkenntnissen des Weltklimarats schnell diskreditiert.
Atwoods Schreiben, das immer das einer Optimistin bleibt, bekommt dadurch dringlichere Züge. Die Probleme, denen sie sich als öffentliche Persona gegenübersieht, sind too big to fail. "2012 wurde bei meinem Lebensgefährten Graeme Gibson beginnende Demenz diagnostiziert", erklärt sie im Vorwort. Auf die Frage, welche Prognose man geben könne, hieß es: "Es kann langsam voranschreiten, es kann schnell voranschreiten oder stagnieren, wir wissen es nicht." Ganz ähnlich, so Atwood, habe es damals um die Welt gestanden. "Es war eine unruhige, von Ungewissheit, jedoch nicht von irgendeiner herausragenden Katastrophe geprägte Phase. Die Menschen fürchteten sich, doch ihre Furcht blieb verschwommen. Wir hielten den Atem an. Machten weiter. Taten, als wäre alles im Lot. Und doch lag schon der Hauch eines Wandels zum Schlimmeren in der Luft."
Sie lag immer richtig mit ihren Diagnosen und vorsichtigen Prognosen zu den Diagnosen. Diese Autorin dystopischer Romane bleibt als Essayistin stets konstruktiv. "Kopf hoch!", ruft sie uns zu: "Die Menschheit macht das nicht zum ersten Mal durch. Früher oder später wird das andere Ufer erreicht sein. Wir müssen nur irgendwie den Teil zwischen vorher und nachher überstehen. Romanautoren wissen, der Mittelteil ist immer am kniffligsten." Als Leserin dieses Buchs ist man immer mittendrin im Kniffeligen, mit der Lösung beauftragt von Atwoods sanfter Autorität.
Margaret Atwood: "Brennende Fragen". Essays.
Berlin Verlag, Berlin 2023. 704 S., geb.
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