Wer Margaret Atwood kennenlernen will, muss ihre Gedichte lesen.
Margaret Atwood ist eine der berühmtesten Romanautorinnen der Gegenwart; ihr »Report der Magd« ist fast schon ein Mythos. Aber wer mehr über den Menschen Margaret Atwood wissen will, muss ihre Gedichte lesen, denn es ist ihre Lyrik, in der sie von sich selbst erzählt. Hier begegnet man der leidenschaftlichen Kanadierin, der Feministin und der Umwelt-Aktivistin. Aber vielleicht noch mehr entdeckt man die Reisende und die Naturliebhaberin, das Kind und die Mutter, die Geliebte und die Liebende. Für diese zweisprachige Ausgabe wurde aus den rund zwanzig Lyrikbänden, die Margaret Atwood zwischen 1966 und 1995 veröffentlichte, eine repräsentative Auswahl getroffen.
Ein ganzes Leben in Gedichten - in den Übertragungen von Ann Cotten, Ulrike Draesner, Christian Filips, Dagmara Kraus, Elisabeth Plessen, Kerstin Preiwuß, Monika Rinck Jan Wagner und Alissa Walser.
Besprechung vom 10.10.2020
Wie die Schlange dichten
Neun deutsche Stimmen: Erstmals erscheint eine profunde Auswahl von Margaret Atwoods Lyrik.
Von Tobias Döring
Ein Wesen, dessen Körper lang und schlank und glatt und stets zugleich Bewegung ist, auch wenn er ruht, da unsere Blicke immerfort an ihm entlanggleiten, beständig seinen Windungslinien folgend: Das ist die Schlange. Der Lyrikerin Margaret Atwood ist sie Sinnbild und Begründung ihrer Kunst: "O Schlange, du bist ein Argument für Dichtung", lautet die Anrufung des Gedichts "Psalm an die Schlange" aus Atwoods Band "Interlunar" von 1984. Er enthält eine ganze Serie von Schlangengedichten, die sich programmatisch lesen lassen als Erkundungsgänge in geheime Zwischenzonen, wo aus Bewegung Sprache und aus Sprache Wirklichkeit entsteht: "Mit dem Körper zu sprechen / ist das, was die Schlange tut, Buchstabe / für Buchstabe ins Gras gedruckt, / sich selbst eine Zunge, die ihre erdigen Hieroglyphen windet".
Ihr poetisches Programm ist, überkommene Verfestigungen aufzubrechen: "Vergessen Sie die phallische Symbolik", heißt es mit wünschenswerter Klarheit in einem weiteren Schlangengedicht: "zwei Dinge sind anders: / Schlange schmeckt wie Huhn, / und wer hätte dem Schwanz jemals Weisheit zugeschrieben?"
Ironisch, lakonisch, scharfsichtig und -züngig, oft lustvoll pointiert, dabei völlig unsentimental, ohne jeden Anflug von Gefühligkeit oder Verklärung, gelegentlich in der Distanziertheit fast schon unterkühlt und dennoch niemals kaltschnäuzig, sondern leidenschaftlich anteilnehmend: So wirkt Atwood als Lyrikerin. Diese Erfahrung war überfällig. Nach mehr als einem halben Jahrhundert erhält jetzt erst ein deutschsprachiges Lesepublikum Gelegenheit, die bekannteste Autorin Kanadas auch in dieser Rolle zu entdecken. Nach vereinzelten, eher zaghaften Versuchen, ihre Gedichte hierzulande einzuführen (zuletzt erschien 2014 "Die Tür"), wagt ihr deutscher Verlag den großen Wurf: Aus den sechzehn Lyrikbänden präsentiert er eine zweisprachige Auswahl von knapp hundert Texten aus dreißig Jahren (basierend auf der Zusammenstellung "Eating Fire" von 1998) mit deutschen Fassungen von neun hochkarätigen Übersetzerinnen und Übersetzern, die sich jeweils einem Band von Atwood widmen.
Die Lektüre ist ein Fest. Wo immer man das dicke Buch aufschlägt, man liest sich fest und lässt sich nur zu gern von einem Text zum nächsten ziehen und sich von jedem weiteren aufs Neue überraschen. Ganz unterschiedlich sind Ton- und Stimmungslagen, in meist knappen Versen schlangengleich vorangleitend, mit vielen starken Windungen und Wendungen. Tatsächlich stand Lyrik am Beginn von Atwoods Schreibkarriere und Erfolg. Als ihr erster Gedichtband, "Das Kreisspiel", mit dem höchsten Literaturpreis Kanadas ausgezeichnet wurde, meldete sich telefonisch ein kanadischer Verlag und fragte an, ob sie auch mal einen Roman plane - nur um zu erfahren, dass ein komplettes Manuskript bereits seit längerem im Haus zur Prüfung lag. So erschien 1969, da war die Autorin dreißig, ihr Romandebüt "Die essbare Frau".
Wer mit Atwood als Erzählerin vertraut ist, wird in den Gedichten vielerlei Verbindungen zu den Romanen finden, sei es die feministische oder ökologische Perspektive oder eine konkrete Figur wie Susanna Moodie, eine englische Siedlerin im Kanada des neunzehnten Jahrhunderts, die in Atwoods abgründigem historischen Roman "Alias Grace" eine Rolle spielt und deren "Tagebüchern" sie schon zwanzig Jahre vorher poetische Gestalt gegeben hatte.
Durch die Unterschiedlichkeit der Stimmen, mit der sich ihre deutschen Übersetzer durchaus selbst bemerkbar machen - ein hoher Reiz der aktuellen Sammlung -, meint man ein ganz eigenes Atwood-Idiom zu vernehmen. Im Zeichen der Schlange dichten heißt, dass immerfort die nächste Wendung oder Windung schon bevorsteht. Deshalb ist Margaret Atwood zu lesen so gefährlich: Man bleibt beständig in Bewegung.
Margaret Atwood: "Die Füchsin". Gedichte 1965-1995.
Aus dem Englischen von Ann Cotten, Ulrike Draesner, Christian Filips, Dagmara Kraus, Kerstin Preiwuß, Elisabeth Plessen, Monika Rinck, Jan Wagner und Alissa Walser. Berlin Verlag, Berlin 2020. 408 S., geb.
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