Wie schreiben, wenn die Wörter im Mund zerfallen? Was tun, wenn das eigene Land nur noch für Tod und Zerstörung steht?
Die Schriftstellerin M. , seit einigen Monaten im europäischen Exil, bricht ins Nachbarland auf - ein Festival hat sie zu Lesungen eingeladen. Die Reise ist voller Pannen: der vorgesehene Anschlusszug existiert nicht, das Ladekabel des Telefons geht verloren. Auf dem Grenzbahnhof in F. wartet niemand, der Kontakt zu den Veranstaltern ist abgebrochen.
Die Lage erfüllt sie mit Erleichterung. M. durchstreift die Stadt, und was ihr begegnet, sind lauter Freiheitsversprechen: ein Escape Room, ein Wanderzirkus, eine flüchtige Bekanntschaft - und am Ende die langersehnte Chance, ihre Identität loszuwerden und zu verschwinden. Aber kann das gelingen?
Die Geschichte spielt im Sommer 2023: Russlands Krieg gegen die Ukraine endet nicht. Metaphern und Anspielungen, von Thomas Hobbes bis Paul Bowles, durchziehen Stepanovas fesselnde, an Wahrnehmungen und Gedanken reiche Prosa. Hat sie, die Nabokov-Leserin, eine Einladung zur Selbst-Enthauptung geschrieben? Es bleibt an uns, den Leserinnen, ob wir ihren »Absprung« als Akt der Befreiung oder der Verneinung verstehen wollen.
Besprechung vom 07.11.2024
Keine vegetarischen Zeiten mehr
In ihrem Roman "Der Absprung" erzählt die Lyrikerin Maria Stepanova vom Exildasein einer russischen Schriftstellerin.
Die Welt ist aus den Fugen, das zeigen die ersten Sätze dieses Romans, mit einem Minimum an Worten. "Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen", das Gras sprießt aus der Erde, "ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde". Die Jahreszahl 2023 ist der einzige Anker in der Realität, alles andere auf den folgenden 140 Seiten bleibt in der Schwebe. Das Wort "Exil" wird nicht genannt: Das Leben der Protagonistin hat sich geändert "ohne ihr Zutun oder auch nur Einverständnis", so heißt es nur, ein permanentes Gefühl des Fallens begleitet sie. Die Schriftstellerin M., die mit der Autorin sehr viel mehr teilt als den Anfangsbuchstaben des Vornamens, kommt aus einem Land, "das früher anders hieß" und Krieg führt gegen ein benachbartes Land; die Stadt B., in der sie heute lebt, ist voll "mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren". Schriftstellerin ist M. nur noch dem Namen nach, sie scheut die Berührung mit ihrer Sprache: "Wer wusste schon, was ihre zum Kriegführen ins Nachbarland gereisten Landsleute in diesem Moment in dieser Sprache sagten, wie und wen sie im selben Moment umbrachten."
Auf Lesungen muss die Schriftstellerin M. Fragen beantworten zu dem Land, das sie verlassen hat. Sie spricht über das Untier, das auch die eigenen Bürger frisst; die Fragen des Publikums klingen dabei "angestrengt mitfühlend, so als wäre auch die Schriftstellerin M. schon angebissen, ja stellenweise abgenagt und läge nur durch einen Zufall noch halbwegs vollständig irgendwo im Gras". Das Publikum lässt allerdings durchblicken, dass M. und ihre Freunde etwas gegen dieses Untier hätten unternehmen sollen, bevor es diese Größe erreichte. Dann möchte M. jeweils antworten, dass sie dieses Tier weder vor noch hinter sich hatte, sondern dass sie selbst ein Teil von diesem Untier war, dies obwohl sie nichts mit ihm gemeinsam hatte (so glaubte sie zumindest).
Die Gedanken an das Untier begleiten M. auf Schritt und Tritt, auch als sie sich im Roman nun auf die Reise macht zu einem Literaturfestival in einem "friedlichen Nachbarland". Nur wird sie dort nicht ankommen, denn die Züge "benehmen sich wie lebende Wesen", sie haben "verlernt, sich an den Fahrplan zu halten". M. strandet in der Grenzstadt F., sie lässt ihr Ladekabel im Zug liegen und kappt schließlich alle Verbindungen zu der Welt und damit auch zu ihrer ausweglosen Lage.
"Wie es wohl weitergeht?", fragt sie sich im Hotelzimmer - und damit kippt der Roman, der vermeintlich autofiktional begonnen hat, ins rein Fiktionale. Ohne es zu wollen, folgt M. einem Mann, der ihr schon im Zug aufgefallen war. Sie gerät (zusammen mit ihm) in einen Escape-Room, und dann tritt sie für einen Abend im Zirkus auf, in der Rolle der zersägten Frau. Doch der Zirkus verschwindet, und das Ende bleibt offen für A., wie sie jetzt heißt; der Anfangsbuchstabe des Alphabets signalisiert den Neuanfang.
Maria Stepanova ist eigentlich Lyrikerin. "Der Absprung" ist ihr erster Text in erzählender Prosa, und im Grunde geht es darin nicht nur um das Exil, sondern ums Erzählen selbst (F.A.Z. vom 28. September). Es lohnt sich, den kurzen Roman mehrmals zu lesen, erst nach und nach erkennt man, dass er bis ins Letzte durchgestaltet ist, angefangen mit der Ebene der Sprache. Die Schriftstellerin M. fühlt sich "eingelegt im Spiritus der eigenen und fremden Schuld", die neue Sprache kommt M. vor "wie ein fremdes Paar Schuhe", die ihr ein paar Nummern zu groß sind, und einmal geht sie "durch die feuchte, gesträubte Nacht". Die Übersetzung stammt von Olga Radetzkaja.
Über weite Strecken hinweg ist "Der Absprung" ein Gedankenroman. Die Lektüren und Geschichten, an die M. sich erinnert, verwandeln den Text in ein Spiegelkabinett. Die Anspielungen reichen von Pinocchio bis Parzival, jeder Leser wird dabei andere Dinge erkennen (und übersehen). Für einen Moment blitzen die "pflaumenblauen Ballerinas" aus Lukas Bärfuss' Roman "Hagard" auf, in dem sich ebenfalls eine Figur aus ihrem Leben hinauskatapultiert; der Zirkustrick mit der zersägten Frau wiederum könnte aus Judith Hermanns Roman "Daheim" stammen. Die Geschichte von dem Linguisten, der viele Sprachen spricht und alles über Sprache weiß, dem jedoch auf einer Reise die Zunge abgeschnitten wird, wird zur Metapher für die Situation der Schriftstellerin M., der ihre Sprache abhandengekommen ist.
Nicht nur die Geschichten sind in dieser Prosa eng miteinander verwoben, sondern auch die Motive: die Suche nach einem neuen Leben etwa oder das Wissen, dass es ein Nachhause nicht mehr gibt (das Wort ist im Roman kursiv geschrieben). Löwe und Hund geistern durch den Text, eine Erinnerung an M.s "inneres wildes Tierchen": Es könnte als Pflanzenfresser durchgehen, würde es sich nicht durch unpassende Gelüste verraten. Nachdem M. nämlich im Bahnhof ein vegetarisches Sandwich gekauft hat, das sie im Zug vergisst, verschlingt sie gierig die "Tierfleischfetzen" eines Döners (ein Wort, das nicht auftaucht, "ein Päckchen Essen" heißt es stattdessen), die Verwandtschaft mit dem Untier liegt offen zutage. Man lebe nicht mehr in vegetarischen Zeiten - Anna Achmatowas Feststellung über Stalins Großen Terror ist im Hintergrund des Romans allgegenwärtig. Schließlich war das Untier in den Dreißigerjahren "auf den Geschmack gekommen", weiß M., ohne dass sie allerdings zu sagen vermöchte, ob das jetzige Untier mit dem damaligen identisch ist oder nur ein Artgenosse.
Dass die Geschichte, trotz aller Abgründe, mit Ironie durchwirkt ist, liegt an Maria Stepanovas Spiel mit der Erzählperspektive. Lesend hört man der Schriftstellerin M. beim Denken zu und kommt ihr ganz nahe - bis man von einem allwissenden Erzähler unversehens aus der Personalperspektive herausgerissen wird. Dann wieder blitzt ein Ich auf, als lugte es kurz durch den Bühnenvorhang, einmal blickt es gar von oben auf seine Protagonistin herab, "mit Bedauern und Verachtung". Erst am Ende wird das Illusionstheater enthüllt: Die Figur M. (beziehungsweise A.) zappelt am Schicksalsfaden einer sarkastischen Ich-Erzählerin.
Der Roman ist verdächtig leicht geschrieben. Vom Verlust des Exils ist zwar die Rede, doch wirklich zu spüren bekommt man diesen Schmerz nicht, in gewisser Weise steht die Virtuosität der erzählerischen Zirkusnummern im Widerspruch zum Gegenstand. Die Schriftstellerin M. beklagt sich nicht, sie weiß, dass ihr das nicht zusteht, unter anderem aus Gründen des Untiers. Doch das ändert nichts daran, dass das Exil für sie ein unerträglicher Zustand ist. Maria Stepanovas Roman über die Existenz als russische Exilautorin beschreibt genau diesen unauflösbaren Zwiespalt. SIEGLINDE GEISEL
Maria Stepanova: "Der Absprung". Roman.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 141 S., geb.,
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