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Besprechung vom 10.10.2020
Stahlharte Mythen
Der neuen Biographie des jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito hätte etwas mehr Distanz zum Titelhelden nicht geschadet.
Von Michael Martens
Josip Broz, der unter seinem Kampfnamen "Tito" bekanntere einstige Staatschef Jugoslawiens, hat drei Jahrzehnte nach seinem Tod eine gewisse Konjunktur. Eine 2016 in deutscher Übersetzung erschienene Biographie des slowenischen Historikers Joze Pirjevec, mehr als 700 Seiten stark, wurde ungeachtet ihrer quellenkritischen Mängel in den Medien weitgehend positiv aufgenommen, obschon in der Fachwelt der zuweilen "begeistert-apologetische Tonfall" des Biographen gerügt wurde. Vier Jahre später kommt nun wieder eine Tito-Biographie auf den Markt, diesmal von der deutschen Südosteuropa-Historikerin Marie-Janine Calic. Da auch Calic 2016 zu den Lobrednerinnen auf Pirjevecs recht unkritische Darstellung gehört hatte, war zumindest nicht auszuschließen, die Tito-Verklärungsliteratur werde durch ihr Werk um ein Belegexemplar wachsen. Doch gleich vorweg sei gesagt: Calic hat die selbstgestellte Aufgabe viel besser bewältigt als Pirjevec. Während ihr Vorgänger sich in der Fülle seines Materials bisweilen verlor, ordnet sie den Stoff ungleich souveräner, weshalb ihr Buch, obschon gut 250 Seiten kürzer, ein weitaus anschaulicheres Bild vom Leben des 1892 in Kroatien geborenen Bauernsohns und späteren Diktators bietet.
Allerdings lässt auch diese Lebensbeschreibung zumindest passagenweise etwas von jener Distanz vermissen, die Biographen bei aller Empathie zur dargestellten Person aufweisen sollten. Mitunter finden sich in dem Buch Sätze, die zumindest unglücklich formuliert sind. Dass die im Katholizismus verwurzelte Mutter des Protagonisten "von heimlichen Sorgen um die Seele ihres Sohnes geplagt" wurde, als der in jungen Jahren auf die kommunistische Bahn geriet, liegt nahe - aber ist es eine angemessene Formulierung für ein Sachbuch? Als der Sohn später vom Tod der Mutter erfährt, heißt es: "Aber Josip, im langen Fellmantel, mit hohen Schaftstiefeln und einer Pelzmütze, auf der noch der Abdruck des fünfzackigen Roten Sterns zu erkennen war, gab sich kämpferisch." Über einen Haftantritt lesen wir: "Irgendwie kommt mir der bekannt vor, dachte sich Broz, als er kurz darauf dem Gefängnisdirektor vorgeführt wurde." Zu Titos Weltanschauung wird resümiert: "Einzig und allein der Revolution fühlte sich der legendäre Partisanenmarschall, langjährige Staatspräsident und gefeierte Frontmann der Blockfreien verpflichtet." In ihrem Duktus auktorialer Allwissenheit wären solche Sätze statthaft in einem Roman, aber in einer historischen Biographie gibt es bessere Lösungen, als zu behaupten: "Erzbischof Aloizije Stepinac hatte ein reines Gewissen, als er im September 1946, glattrasiert und akkurat gescheitelt, die zum Gerichtssaal umfunktionierte vollbesetzte Turnhalle in Zagreb betrat."
Die Herausforderung für Tito-Biographen ergibt sich daraus, dass viele zeitgenössische Berichte über dessen Leben bereits im Dienste der Legendenbildung standen. Wer sich mit dem Wirken Titos befasst, bewegt sich in einer stark hagiographisch geprägten Quellenlandschaft - schließlich gebot Broz 35 Jahre lang über einen Staat und dessen Propagandaapparat, um in Wort, Bild und Ton an seiner Apotheose feilen zu lassen. Für den Kinofilm "Neretva" über den Kampf der Partisanen wurden Weltstars wie Yul Brynner und Orson Welles engagiert, Picasso gestaltete die Plakate. Die enormen Produktionskosten, die sich Jugoslawien damit aufbürdete, wurden immerhin durch eine Oscar-Nominierung honoriert. Für eine noch aufwendigere Produktion wurde die Rolle Titos mit Richard Burton besetzt - von Tito, wie Calic schildert.
Kurzum: Wer sich biographisch mit diesem einstigen Staatschef befasst, muss den Ausgang aus einem Irrgarten der Idolisierungen finden. Und wer Texte über ihn liest, darf sich bisweilen getrost die Lorbeerzweige wegdenken, mit denen es Broz noch postum gelingt, Beschreibungen seines Lebens zu umkränzen - etwa wenn es, in der Sache womöglich durchaus treffend, in diesem Buch über ihn heißt: "In brenzliger Lage stahlharte Nerven zu behalten, gehörte später zu seinen außergewöhnlichsten Qualitäten."
Wie stahlhart der Tito-Mythos bis heute ist, zeigt sich auch an der andauernden Überhöhung der militärischen Schlagkraft von Jugoslawiens Partisanen. Bei Calic lesen wir: "Im Vielvölkerstaat besaß sonst keiner den Mut und die Verwegenheit, der militärisch haushoch überlegenen Wehrmacht die Stirn zu bieten. Nur den Jugoslawen gelang es, die fremde Besatzung fast ganz aus eigener Kraft abzuschütteln." In der Forschung ist diese Lesart inzwischen nicht mehr unbestritten. Der Wiener Südosteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt etwa spricht von einem "jugoslawischen Staatsgründungsmythos", bei dem ignoriert werde, dass Titos Partisanen 1944 militärisch kaum erfolgreich gewesen wären ohne den vorherigen Bündniswechsel der Bulgaren, dem ein Vormarsch der bulgarischen Armee mit 450 000 Mann nach Serbien sowie das Vordringen der Roten Armee an die mittlere Donau folgten.
Ein Zufall freilich waren Titos Erfolge nicht. Er hatte Charisma und wusste sich Gefolgschaft zu sichern, wie Calic beschreibt. So überstand er 1948 den Konflikt mit Stalin, bevor ihm in den sechziger Jahren sein Meisterstück gelang: Nach der Gründung der Blockfreien-Bewegung boxte Jugoslawien in der Staatengemeinschaft mehr als zwanzig Jahre lang in einer Gewichtsklasse, in die es seiner Größe oder Wirtschaftskraft nach eigentlich nicht gehörte. Calic zitiert Henry Kissinger, der befunden habe, dass Tito seinem Land eine Rolle zu geben versuche, "die ziemlich unverhältnismäßig ist verglichen mit Größe, Lage und Potential". Aber darin hatte er eben Erfolg, und das ist seine größte staatsmännische Leistung.
Nach den blutigen Anfängen der vierziger und fünfziger Jahre, als Tito seinem Lehrmeister Stalin bei der Vernichtung von Gegnern nicht nachstand, kam im Fall Jugoslawiens eine erstaunliche Liberalität hinzu. Seit den sechziger Jahren war Jugoslawien wohl tatsächlich eine "kommode Diktatur" - anders als die DDR, auf die Günter Grass diese Worte gemünzt hat. Die Bürger Jugoslawiens durften nicht nur ihre Heimat verlassen, viele kamen sogar gern zurück - welch ungeheure Provokation für den sowjetischen Ostblock! Ob Titos Staat mehr kommod oder mehr diktatorisch war, hing dabei von der individuellen Botmäßigkeit ab. Wer den Machthabern unangenehm wurde, riskierte die Vernichtung der eigenen Existenz. Tito, schreibt seine Biographin, "hielt bis ganz zum Schluss ein repressives Instrumentarium vor, das immer zum Einsatz kam, wenn die sozialistische Ordnung, die Alleinherrschaft der Kommunisten oder der Staat Jugoslawien in Frage standen: Zensur, Berufsverbote, politische Prozesse und die Liquidierung von Regimefeinden im Ausland durch die Geheimdienste." Als Tito 1980 starb, hinterließ er ein Land, das mit fast 20 Milliarden Dollar verschuldet war. Das entsprach etwa 27 Prozent von Jugoslawiens Bruttosozialprodukt - wenig für heutige, durchaus viel für damalige Maßstäbe.
Was bleibt? Calic schreibt von einer gewissen "Titostalgie" in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die gibt es tatsächlich, allerdings existiert in keinem der sieben Staaten, die aus dem jugoslawischen Verwesungsprozess entstanden sind, eine auch nur ansatzweise bedeutsame Strömung oder gar Partei, die Titos Jugoslawien zurückhaben will. Die "Jugosphäre", der gemeinsame kulturelle Raum der Region, ist nicht auf Tito als Maskottchen angewiesen. Der war ein Großer seiner Zeit, ging aber mit ihr unter. Beeindruckend ist der Lebensweg dieses Staatsmannes gleichwohl. Marie-Janine Calic beschreibt das mit großem Wissen und in einem Stil, der Seite um Seite zum Weiterlesen einlädt - selbst dort, wo das Lektorat ein wenig strenger hätte sein dürfen.
Marie-Janine Calic: "Tito - Der ewige Partisan". Eine Biografie.
C. H. Beck Verlag, München 2020. 442 S., geb.
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