Besprechung vom 27.11.2023
Schnell noch das Bild zu Ende malen
Träumer wie wir: Mark Janssen tröstet mit einem Bilderbuch Kinder, die auch in der Schule noch keine Ahnung haben, was sie später einmal werden wollen.
Wenn Erwachsene sich fragen, warum sie noch keine berufliche Erfüllung gefunden haben, bekommen sie gelegentlich den guten Rat, sich darauf zu besinnen, was sie als Kind, mit sieben, acht Jahren, hatten werden wollen. Nicht um sich dann nach Möglichkeit genau für diesen Job zu qualifizieren und doch noch Astronaut, Forscherin oder Zauberer zu werden, sondern um hinter den Vorstellungen von damals die Leidenschaften zu finden, die sie auch als Erwachsene noch umtreiben könnten.
Was aber, wenn man sich schon als Kind schwergetan hat mit der konkreten Benennung einer solchen Phantasie? Wenn es einem so gegangen ist wie Aron in Mark Janssens Bilderbuch "Träumer", dem es keinesfalls an Einfallsreichtum fehlt. Auf der Rückfahrt von der Schule schüttet der Junge dem Vater sein Herz aus: Präsidentin, Feuerwehrmann, Paläontologin - auf die Ermutigung des Lehrers hin, sie könnten alles werden, was sie wollten, haben die Klassenkameraden heute von ihren Träumen erzählt. Nur Aron weiß einfach nicht, was er werden will. Oder weiß er nicht, was aus ihm werden soll?
Der Vater hält an, steigt mit dem Sohn aus, geht ein paar Schritte in den Wald hinein, den sie gerade durchqueren, und erklärt Aron, dass es Leute gibt, die besonders gut im Denken sind, während sich andere vor allem als Macher hervortun. Und dann gibt es noch Kinder, die - der Junge hängt inzwischen förmlich an seinen Lippen - alles anders sehen, riechen, hören und fühlen, und plötzlich ...
Plötzlich hebt das Buch ab: Hatten sich auf den doppelseitigen Aquarellen von Wald und Wasser, Bäumen und Felsen schon länger immer mehr wie von Kinderhand gezeichnete helle Tierfiguren in die Landschaft gemischt, gibt es jetzt für Aron kein Halten mehr. Die buntesten Tier- und Fabelwesen nehmen das nächste Bild ein, dem Jungen selbst wachsen Flügel.
Auf der folgenden Seite führt er die durch die Lüfte tobende, krakeelende Schar schon an. Als Nächstes - "Fwuuuuuuusch!" - spuckt er, gerade noch an den Farben von Jacke, Pulli und Hose auszumachen, unter den beifälligen Blicken der anderen Drachen mit größtem Vergnügen einen Feuerstrahl, während unter ihnen ein aus runden Felsen erwachsener Schatten in Menschenform liegt, der jetzt wie von Kinderhand gezeichnete Ergänzungen trägt: helle Hände und Augen.
Mark Janssen hat sein Bilderbuch als Ermutigungsbuch für solche Kinder angelegt, mit denen gelegentlich die Phantasie durchgeht. Um zu veranschaulichen, was das heißt, ist es für ihn unerlässlich, ganz aus der Perspektive Arons zu erzählen. Das funktioniert für die Geschichte vor und nach seinem Höhenflug nur mit Abstrichen. Doch nur so werden die zusätzlichen Figuren plausibel, die sich sogar in Momenten aufmerksamen Gesprächs mit seinem Vater schon in Arons kindliche Wahrnehmung mogeln. Nur dann kann Mark Janssen dem Jungen durch das Feuerwerk von Formen und Farben folgen, das sich entwickelt, sobald der seiner Phantasie freien Lauf lässt. Einzig mit diesem Schritt kann er entscheidend über die Erzählung so vieler Bilderbücher hinausgehen, die wie Leo Lionnis Klassiker "Frederick" das Loblied künstlerischer Kreativität im Unterschied, im Ausgleich zur Emsigkeit all der anderen Mäuse singen.
Wie es weitergeht? Behutsam, fast als würde er ihn auffangen, holt der Vater Aron wieder in die Wirklichkeit: Es seien diese Menschen, die, wenn sie groß sind, mit ihrer Kunst die Welt noch schöner und fröhlicher machten, sagt er. Dann ist es Zeit, zurückzufahren: Bald kommt die Mutter nach Hause, und dann soll das Abendessen auf dem Tisch stehen. Schließlich wird Aron zu Tisch gerufen, offenbar nicht zum ersten Mal: Ob er mit seinen Gedanken wieder ganz woanders sei? Er möge die Stifte weglegen und kommen.
Ein Ruf, wie er in vielen Familien zum Alltag gehören mag und an den sich vielleicht auch manche Erwachsene bei ihrer Frage nach beruflicher Erfüllung erinnern werden. Die Art, wie der Vater seinen Sohn ruft, löst nicht nur liebevoll den Buchtitel ein und benennt die versprochene dritte Kategorie neben den Denkern und Machern dieser Welt. Arons Antwort zeugt auch von einer Autonomie, die darauf vertraut, dass seine Eltern ihn in seinen Bedürfnissen anerkennen, auch wenn es ihnen einiges an Verständnis und Geduld abverlangt: "Was bist du nur für ein großer, lieber, kleiner, frecher Träumer", ruft der Vater. "Ich komme!", antwortet der Junge - und beschließt doch für sich, erst noch sein Bild zu Ende zu malen. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Mark Janssen: "Träumer".
Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2023. 32 S., geb., 19,99 Euro. Ab 5 J.
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