1923 - Das Jahr der Extreme
Es war das Jahr, in dem die deutsche Politik von Krise zu Krise schlitterte, als ein Bürgerkrieg realistisch erschien und die Republik an ihren Extremen und ihrer prekären Wirtschaftslage zu zerbrechen drohte. Was erzählt die traumatische Erfahrung des Jahres 1923 über uns?
Der Historiker Mark Jones führt uns mitten hinein ins Krisenjahr 1923: in jene Monate, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, die Deutschen für ein Brot Milliarden zahlten und in den Bierkellern ein Rechtsextremist namens Adolf Hitler reüssierte. Jones erzählt von der Bedrohung des Staates durch Putschisten von links und rechts, von Hunger und Antisemitismus - aber auch davon, wie das Land die Dauerkrise überwand und zu Stabilität und Frieden fand. Am Ende standen die Demokraten als Sieger da.
Besprechung vom 25.06.2022
Ist das Geld entwertet, steigt der Hass
Die Selbstmythisierung darf nicht vernachlässigt werden: Mark Jones rekapituliert das deutsche Krisenjahr 1923
"Am Anfang war Gewalt", so lautet der Titel des Buchs über das Weltkriegsende und die Revolution, das Mark Jones vor fünf Jahren vorlegte. Nun liegt mit "1923" eine Art Fortsetzung vor. Der Autor ist ein begnadeter Erzähler. Seine Quellen sind in erster Linie der Forschungsliteratur entnommen, die er umsichtig nutzt. Zeitgenössische Zeitungsberichte kommen hinzu, auch einige neu erschlossene Archivquellen. Die Übersetzung ist bis auf wenige Ausrutscher gelungen.
Jones möchte Mikrogeschichte mit den großen Ereignissen zusammenbringen, wie er in einem "Prolog" betont. Deshalb wird zu Beginn jedes der insgesamt zwölf Kapitel eine individuelle Geschichte "mit dem Mikroskop" angesehen. Die Darstellung beginnt nicht 1923, sondern mit einer etwas zu detaillierten Schilderung des Mordes an Walter Rathenau im Juni 1922 und seinen Folgen. Die Jagd auf die Mörder und die Massendemonstrationen für Rathenau - weitgehend nach der exzellenten Studie von Martin Sabrow dargestellt - sind für Jones eine Art "Neugründung der Weimarer Republik" nach zerfahrenen Anfangsjahren. Es folgt eine Schilderung der Ruhrbesetzung. Die Motive Frankreichs werden solide diskutiert, für die mikrogeschichtliche Facette sorgen Vernehmungsprotokolle zu Vergewaltigungen durch französische oder belgische Soldaten.
Knapp wird auch auf den Charakter dieser Besetzung als einer Art Antwort auf die damals nur wenige Jahre zurückliegende deutsche Besetzung Nordfrankreichs eingegangen. War die von den Deutschen so sehr beklagte Pflicht, französische Offiziere auf der Straße zu grüßen, nicht ein direktes Echo der Praxis der deutschen Besetzer von 1914 bis 1918? Ausführlich wird über die Formen des aktiven Widerstandes und dabei besonders über die Erschießung des Attentäters Schlageter durch die Franzosen und den Schlageter-Kult berichtet. Warum, so fragt Jones, konnte sich dieser vertiefen, nicht aber ein Kult um Walter Rathenau als Opfer für die Republik entstehen? Hat sich die Republik schlicht zu wenig um ihre Selbstmythisierung gekümmert?
Ein angemessen großer Teil des Buches gilt dem Aufstieg Hitlers im Krisenjahr 1923. Er wird geschickt mit der reaktionären Politik der bayerischen Regierung in Bezug gebracht, die es etwa ablehnte, dem Antrag der SPD auf ein Verbot der SA beizutreten. Jones zeigt, wie leicht es der bayerischen Regierung möglich gewesen wäre, die Hitler-Bewegung einzudämmen, doch wollte man diese "nationalen" Aktivisten gar nicht wirklich loswerden. In einem späteren Kapitel zeigt Jones, wie die Vertreibung der "Ostjuden" aus Bayern 1923 und die antisemitischen Ausfälle von den Konservativen begrüßt wurden, die sich auch weigerten, gegen Hitler vorzugehen, obwohl man wusste, dass dieser einen Putsch plante.
Wer von 1923 spricht, darf von der Hyperinflation nicht schweigen. Jones widmet sich diesem Thema, indem er sich weniger um die finanzpolitische Seite kümmert als um die psychologischen Begleiterscheinungen und Konsequenzen für den Legitimitätsverlust der Republik. Wie die rapide Geldentwertung mit dem Auslöschen von Selbstwertgefühlen, mit Hass auf "Schieber" und Profiteure einherging, wird prägnant behandelt.
Jedes Kapitel ist einem Monat gewidmet. Dasjenige über den November befasst sich mit dem Hitlerputsch. Auch dem wenig informierten Leser wird klar, wie sehr dieser in die damalige Aufgeregtheit und den Aufschwung des extremen Antisemitismus nicht nur in Bayern passte. Wie sich das alles schließlich in Luft auflöste, will der Autor im Dezember-Kapitel zeigen, wo es auf einmal um die Zerrissenheit des völkischen Lagers geht, von der vorher überhaupt keine Rede war. Und plötzlich wird alles so hastig abgehandelt, dass man den Eindruck gewinnt, Mark Jones habe rasch fertig werden müssen. Denn allein ist er nicht: Es gibt momentan eine ganze Reihe von angekündigten Büchern, die sich mit dem Krisenjahr 1923 auseinandersetzen. GERD KRUMEICH
Mark Jones: "1923". Ein deutsches Trauma.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 384 S., geb.
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