Besprechung vom 17.06.2021
Überall ist es noch schlechter als zu Hause
Schluss mit den Sehenswürdigkeiten: Mark Twains Berichte von seiner Europareise von 1867, erstmals nach den Zeitungsartikeln übersetzt
Es war Mark Twains erfolgreichstes Buch - zu Lebzeiten. Als Einunddreißigjähriger nahm der ehemalige Mississippi-Lotse an einer fast halbjährigen Reise auf der "Quaker City" teil, die - zum Teil auch per Bahn oder mit Reittieren - von New York über die Azoren durch Teile Europas bis ins Heilige Land führte. Denn wie der Name des Schiffes schon andeutet, gehörte zu den Passagieren auch eine Gruppe Pilger, denen, wie es der Herausgeber und hervorragende Übersetzer Alexander Pechmann in seinem Nachwort formuliert, ihr Mitreisender "zur biblischen Plage" geworden sein musste, vor allem wegen dessen Alkohol- und Zigarrenkonsums und dessen Spottsucht. Für Twain selbst, inzwischen Journalist, handelte es sich allerdings nicht um eine Vergnügungsreise. Er schrieb fast täglich einen Artikel für "The Daily Alta California", zuweilen auch für die "New York Tribune".
Daraus wurde 1869 das Buch "The Innocents Abroad or The New Pilgrim's Progress", eine überarbeitete und im Ton geglättete Fassung dieser Artikel, die schon 1875 auch ins Deutsche übertragen wurde. Was jetzt in der Klassiker-Reihe des Mare-Verlags vorliegt, sind indes Übersetzungen der Originaltexte, die Twain während der Reise schrieb. Sie sind, wie Pechmann zutreffend schreibt, "aus gröberem Holz geschnitzt, verspielter, anarchischer und sarkastischer", und ebendas macht ihren Reiz aus.
Denn zuweilen lesen sich diese Berichte so, als wäre Thomas Bernhard durch den amerikanischen Mittelwesten gereist und berichtete darüber für ein österreichisches Blatt. Beide Autoren verbindet, dass sie schon von ihrem eigenen Herkunftsland wenig Schmeichelhaftes sagen können. In Mark Twains Fall führte das zu interessanten Ambiguitäten. Der Autor, der 1867 das Kreuzfahrtschiff bestieg, teilte, abgesehen von seiner Parteinahme für die Abschaffung der Sklaverei, die normalen Einstellungen und Vorurteile eines jeden anderen Amerikaners, der in den Südstaaten aufgewachsen war. Dazu gehörte unter anderem die Feststellung, die indianischen Ureinwohner des Kontinents seien "der Abschaum der Erde".
Entsprechend fällt auch Twains Blick auf die Länder, die er zusammen mit den Pilgern, aber auch sehr weltlichen Passagieren besucht, oft - gelinde ausgedrückt - unfreundlich aus. Die Bewohner der Azoren etwa sind ihm Faulpelze, denn "sie nehmen sich drei Tage in der Woche frei und verbummeln die übrige Zeit". Die zivilisatorische Entwicklung in Europa sei schon lange stehengeblieben, was an der Herrschaft der Jesuiten liege. Im Pariser Faubourg Saint-Antoine "ermorden die Bewohner jemanden für sieben Dollar und werfen die Leiche in die Seine". Das ist ein scharfer Kontrast zu Versailles, das für Twain beinahe dem Garten Eden gleichkommt: "Früher habe ich Ludwig XIV. beschimpft, weil er 200 Millionen Dollar für diesen wundervollen Park ausgegeben hat, während seine Untertanen nicht genug Brot zum Leben hatten; jetzt vergebe ich ihm." Auch dem gegenwärtigen Herrscher in Frankreich, Napoleon III., gesteht Twain Bedeutung zu, "denn er hat den Wohlstand in Frankreich innerhalb von zehn Jahren derart vermehrt, dass man es in Zahlen kaum ausdrücken kann".
Der freundlichste, ja geradezu hingerissene Blick auf der ganzen Reise fällt auf Genua, und zwar wegen der enormen Anzahl schöner Frauen bei etwa 120 000 Einwohnern. "Ich schätze, zwei Drittel davon sind Frauen, und mindestens zwei Drittel von diesen sind schön." Der Ausruf "Welch ein Wunder! . . . Und doch so zart, so luftig, so anmutig!" gilt dann allerdings nicht mehr den rund 52 000 Schönen von Genua, sondern dem Mailänder Dom, dessen Beschreibung sich Twain ausführlich und bewundernd widmet, bis er zum ersten Mal auf seiner Reise auf das Thema des Reliquienschwindels kommt, deshalb sei die Stelle hier pars pro toto wiedergegeben: "Die Priester zeigten uns zwei Finger von Paulus und einen von Petrus; einen Knochen von Judas Ischariot (er war ganz schwarz); Knochen von den anderen Jüngern und ein Taschentuch mit einem Gesichtsabdruck des Erlösers. Unter den kostbarsten Reliquien befanden sich ein Stein aus dem Heiligen Grab, ein Teil der Dornenkrone (sie haben eine ganze in Notre-Dame), ein Stück des Purpurmantels des Erlösers, ein Nagel vom Kreuz . . ."
Dieser Tongue-in-cheek-Sarkasmus weicht gute hundert Seiten später echtem Widerwillen, wenn es ins Osmanische Reich geht. Heutige Gedankenwächter würden Twain - und zu Recht - Islamfeindlichkeit vorwerfen. Auf der anderen Seite wäre das Buch ein passendes Gastgeschenk für Ursula von der Leyens nächsten Besuch bei Erdogan, zumal es Passagen von höchster Aktualität enthält wie etwa diese: "Zeitungen sind gewiss nicht besonders beliebt bei der Regierung des Sultans . . . Kommt eine Zeitung vom rechten Weg ab, verbietet man sie - man drischt ohne Vorwarnung auf sie ein und dreht ihr den Kragen um."
Die Szene hellt sich kaum auf, als es ins Heilige Land geht. Der See Genezareth ist für Twain eine Pfütze mit trübem Wasser, und Galiläa bestehe überhaupt aus "menschenleeren Wüsten" und "schäbigen kahlen Hügeln", aus der "traurigen Ruine von Kapharnaum" und dem "stumpfsinnigen Dorf Tiberias". "Angeblich ist das Land verflucht", lautet Twains Fazit, "und ich glaube nicht, dass es daran irgendwelche Zweifel gibt." Palästina "ist das hoffnungsloseste, trostloseste, unglückseligste Land jenseits von Arizona". In Jerusalem kennten die Leute nur das eine Wort: Bakschisch. Und Twains Reisegefährten sind vor allem darauf bedacht, aus den heiligen Stätten Andenken für zu Hause zu klauen. Deshalb heißt einer seiner letzten Artikel "Schluss mit den Sehenswürdigkeiten", woraus man ersehen kann, dass der Tourismus im Jahre 1867 schon voll entwickelt war und seitdem nichts wesentlich Neues hinzugekommen ist.
Einen Glanzpunkt gibt es bei der Reise durchs Heilige Land dann doch: Twain erzählt auf knapp fünf Seiten noch einmal die Geschichte Josephs und seiner Brüder. Das ist so prägnante Prosa, dass man ernsthaft nachschauen müsste, ob Thomas Manns Josephsroman auf Augenhöhe ist.
JOCHEN SCHIMMANG
Mark Twain: "Unterwegs
mit den Arglosen".
Aus dem Amerikanischen und hrsg. von Alexander Pechmann. Mare Verlag, Hamburg 2021. 527 S., Abb., geb. im Schuber
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