Besprechung vom 09.06.2021
Rausch der Sprache
Auf zur epischen Viktualienschlacht: Mathias Énards Roman "Das Jahresbankett der Totengräber"
Welch Überraschung: Auch diesen Roman von Mathias Énard hätte man am Mittelmeer erwartet, in Barcelona, Venedig, Istanbul, vielleicht noch in der Brückenstadt Wien, an irgendeinem Ort, wo Orient und Okzident sich begegnen, doch "Das Jahresbankett der Totengräber" spielt kurz vor der Atlantikküste. Auch ein urbanes Setting schien dem treuen Leser typisch - und hopp, da stranden wir in La Pierre-Saint-Christophe: Ausgerechnet der Kosmopolit Énard bereichert die französische Literatur um einen Roman übers Leben zwischen Hof und Angler-Café, Sumpf und Acker, Terrine und Schnaps. Das Landleben ist jedoch kein Selbstzweck, Énards Alchemie verwandelt es ins Universelle: "Das Jahresbankett" ist ein kosmisches Werk über Essen und Liebe, über Tod und Reinkarnation, über die alles verdauende und sublimierende Macht der Sprache.
Der Pampa des Bas-Poitou nähert sich Énard über eine Finte: Er schickt David Mazon dorthin, knapp dreißig, angehender Ethnologe, dessen Doktorarbeit "eine richtige Monographie über das Landleben" werden soll. Der distanzierte, aber gutwillige Blick des etwas tölpelhaften Neuankömmlings erlaubt Énard die vorsichtige Annäherung, das schrittweise Ablegen diverser Vorurteile. Davids Feldtagebuch bildet den Rahmen, das erste und das letzte von sieben Kapiteln. Der Nachteil einer beschränkten Außensicht wird in den Innenkapiteln ausgeglichen: Ein quasi-göttlicher Erzähler eröffnet eine Panoramaschau, die Jahrhunderte umfasst. In der Mitte des Romans thront die zentrale Szene, der Bericht vom Jahresbankett der Totengräber. Als Einschübe zwischen den Kapiteln schließlich finden sich fünf "Chansons".
David bietet einen flotten Einstieg. Er ist ein prätentiöser und dennoch liebenswerter Fehlzünder der Wissenschaft: Man folgt seiner einjährigen Entwicklung vom scheiternden Doktoranden zum zufriedenen Bio-Landwirt, vom geilen Liebhaber der Pariserin Lara zum Lebensgefährten von Lucie Moreau, einer Mittdreißigerin "im Hippie-Landlook". Letztere ist eine zentrale Gestalt in La Pierre-Saint-Christophe: Von den übrigen 648 Seelen dieses Dorfes interessieren Lucies Großvater und seine tragische Lebensgeschichte, Lucies behinderter Cousin Arnaud (ein Automechaniker und Jahrestags-Herunterbeter), Thomas als fieser und lüsterner Wirt des Angler-Cafés, der Bürgermeister und Bestattungsunternehmer Martial, Mathilde und Gary, beide Landwirte und Vermieter Davids, der Künstler Max, mit dem David sich anfreundet, sowie dessen Geliebte Lynn, eine Friseurin und Lucies beste Freundin.
Das Personal wird noch erweitert um Ahnen - und um frühere Inkarnationen der Figuren. Denn Énard schreibt einen buddhistischen Roman: "Als der sehr von sich überzeugte Anthropologe David Mazon angeekelt eine halbe Flasche Javelwasser über die roten Anneliden kippte, die sein Badezimmer bevölkerten, wusste er nicht, dass er damit die Seelen finsterer Mörder ins Lebensrad zurückschickte, Seite an Seite Marseil Sabourin, 1894 guillotiniert, der kleine Chaigneau, 1943 guillotiniert, dazu die erlauchten Henker Deibler und Desfourneaux, die sich alle mit ihren Gewalttaten mehrere Generationen währendes Leiden und blindes Umherkriechen in der Nässe eingehandelt hatten." Am Rande: Das Leben all dieser mal wichtigen, mal anekdotischen Figuren bringt Énard mühelos unter. Vermutlich führt er die Reinkarnationslehre - Lebensrad, "Klares Licht" und Bardo (das tibetische Intervall zwischen den Existenzen) inklusive - aus rein erzählerischen Gründen ein, denn der Kunstgriff erlaubt es ihm, die Geschichte der weiteren Umgebung in den Roman zu holen. Einen Kern gibt es dennoch: die brutale und traurige Geschichte von Lucies Familie.
Énard bestätigt seinen Ruf als Universalgelehrter, der eine unglaubliche Freude daran hat, das Große und das Kleine, den Bischof und den Henker, die Sumpfkresse und das Königreich in einen Rahmen zu bringen. Sein historisches Riesenfresko funktioniert nach Gesetzen der Assoziation, der Spiegelung, der überraschenden Verbindung. Gern zitiert Énard die reiche Literatur der Region, Agrippa d'Aubigné etwa wird als Reinkarnation von Lucies suizidärem Urgroßvater Jérémie beschrieben, und dass Victor Hugos Chouan-Roman "1793" David beschäftigt, ist kein Wunder - die Vendée ist direkte Nachbarin. Wichtigster Bezugspunkt freilich ist François Rabelais, sein Geburtshaus La Devinière liegt um die Ecke, ebenso die Abtei von Maillezais, ein Vorbild der utopischen Abtei von Thélème in "Gargantua".
Zum kosmischen Sinnbild gesteigert wird das menschlich-literarische Wimmeln im Jahresbankett der Totengräber - es findet in Maillezais statt. Einmal im Jahr, um Ostern, hält das Rad des Lebens an, eine Sterbenspause sozusagen, und auch die Totengräber dürfen sich des Lebens freuen. Bürgermeister Martial (laut David eine Rabelais-Gestalt) organisiert für 99 Totengräber eine Viktualienschlacht epischen Ausmaßes, schon das Menü sprengt den Rahmen. Wenigstens ein paar Käsesorten seien dem Rezensenten gegönnt: "solche, die hart waren wie das Herz einer Eiche, Comtés, deren reife Laibe aus dem Jura hergerollt worden waren, feste Têtes de Moines, mit denen man die Ungläubigen hätte erschlagen können; die weichsten Käse dehnten sich aus wie die Bäuche von Paschas auf den Kissen im Serail und schmolzen mit der Zeit auch ohne Wärmezufuhr: die überreifen, aus Rohmilch hergestellten Camemberts, die träge zerfließenden Vacherins; die furchterregend stinkenden Époisses kamen in Wellen aus ihren gewaschenen Krusten gekrochen wie Reblochons". Die Käse-Symphonie aus Émile Zolas "Der Bauch von Paris" ist nicht fern. Dazu Loire-Weine in Fülle, mit klarer Neigung zu den eleganten Chinons sowie nicht näher bestimmten Chenin-Genüssen. Wem da nicht das Wasser im Munde zusammenläuft . . .
Die Bestatter stürzen sich in einen Rausch sondergleichen, den gelehrte oder flammende Reden unterbrechen respektive befeuern: "Lasst uns fröhlich sein, Brüder der Traurigkeit, statt lange Gesichter zu machen, wollen wir ein gigantisches Gelächter anstimmen!" Der Leser feiert und schlemmt, freut sich an einem kulinarischen Vokabular der Extraklasse - der Rausch ergreift die Sprache, gefüttert mit Bezügen von Seneca über die Troubadour-Dichtung bis hin zu Trink-, nein Saufliedern. Wie nennt man so eine Lebensorgie? Wohl des Memento-mori-Motivs der Totengräber halber und weil es zeitlich irgendwie passte, ist vielen deutschen Kritikern das Adjektiv "barock" eingefallen - erwartbar und unpassend: Der Roman ist ein Renaissance-Monster, eine elegante Groteske, eine Hommage an Rabelais (nein, kein Barockautor). Es ist eine Suche nach der Fülle der Welt, die eine Suche nach der verlorenen Sprache ist, jene vor der Vernunftnorm der französischen Klassik. Énard setzt diese Suchbewegung der Romantik fort, genauso wie er die Zerstörung des ländlichen Lebensraums kritisiert - eine Kritik ohne Illusionen, mit den Mitteln der Gegenwart.
Umso wichtiger sind die lyrischen Kontrapunkte: Die "Chanson"-Kapitel erzählen Volkslieder neu oder setzen sie in eine kurze Szene um. "An einer klaren Quelle" etwa schildert, wie ein Protestant, der wegen seines Glaubens nach Amerika auswandern musste, beim Bad in einem Teich an seine Geliebte denkt: "Er fährt mit dem Finger über seine Narbe. Er hat das Bild seiner Frau vor Augen, ihre Zärtlichkeit, ihre Schönheit, ihre gottgefällige Bescheidenheit, die langen Hände, mit denen sie Rosen pflücke, um sie ihm zu schenken." Die Prosaminiaturen bieten anrührende Sehnsuchts- oder Trauermomente.
Dass der Roman so vital wirkt, verdankt er seinem Helden David und vielleicht auch seiner Landschafts-Empathie. Der Begriff ist leicht erklärt: Der 1972 in Niort geborene Énard stammt aus dem Departement Deux-Sèvres, der Roman ist eine Heimkehr; man merkt Anekdoten und Geschichten diese Verankerung an, die über die mitunter trockenen enzyklopädischen Verweisnetze von "Zone" (2008) oder "Kompass" (2015) hinausgeht. So hat Énard nach einigen kleineren Werken einen dritten großen Roman geschrieben, dem es gelingt, in den Kanälen des Poitou die weite Welt zu spiegeln.
NIKLAS BENDER
Mathias Énard: "Das Jahresbankett der Totengräber". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2021. 480 S., geb.
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