Besprechung vom 07.03.2022
Wattfieber bei Nipptide
Von Insulanern und anderen schweigsamen Schlickbeißern: Mathijs Deen wandert bei Niedrigwasser durch die Emsmündung - mit tödlichem Ausgang.
Hier in der Emsmündung sieht man ganz konkret, wie Zusammenarbeit statt Abgrenzung zu besseren Ergebnissen führt, auf beiden Seiten. Deutschland und die Niederlande zeigen, wie Konflikte gutnachbarschaftlich gelöst werden können." So steht es auf der Internetseite des Auswärtigen Amts über einen bilateralen Vertrag, den der damalige Außenminister Steinmeier 2014 unterzeichnet hat. Er beendete den seit dem sogenannten Ems-Dollart-Vertrag von 1960 schwelenden Streit zwischen Deutschland und den Niederlanden. Es ging um unterschiedliche Auffassungen über den Grenzverlauf in der Emsmündung.
In seinem Roman "Der Holländer" nimmt sich der Schriftsteller und Radioproduzent Mathijs Deen die Freiheit, diesen Schwebezustand noch ein wenig zu verlängern. Denn der Tote, der auf der niederländischen Sandbank De Hond angeschwemmt wurde, ist zunächst nur für die deutschen Behörden ein klarer Fall. Der Leiter Bundespolizei See formuliert es gegenüber seinem holländischen Kollegen so: "Sie haben auf deutschem Territorium einen deutschen Staatsbürger gefunden, der auf deutschem Gebiet eines nicht-natürlichen Todes gestorben ist, und ihn auf niederländisches Gebiet mitgenommen." Bei dem Toten handelt es sich um Klaus Smyrna, einen legendären Wattwanderer, der zusammen mit seinen Freunden Peter Lattewitz und Aron Reinhard so etwas wie Spitzensportler der Wattbezwingung war.
Vergleichbar mit der Besteigung von Achttausendern im Himalaya haben sich die drei ungleichen Freunde auf die Durchquerung von gefährlichen Wattabschnitten spezialisiert. Sie haben ein Buch zusammen verfasst und gehen als Vortragsreisende auf Tour mit ihren Erfahrungen. Eine Route fehlte noch in ihrer Leistungsbilanz: die Wanderung von der Westküste des friesischen Festlands zur Insel Borkum. Eine verbotene Route, weil sie durch ein gesperrtes Naturschutzgebiet führt. Und nur bei ganz bestimmten Wetterbedingungen überhaupt passierbar scheint: bei "Nipptide, Wind Ost vier, vielleicht fünf, 1040 hPa".
Der Ostwind muss das Wasser in die Außenems treiben, seit mehr als zehn Jahren wartet das Trio auf diese Voraussetzung. Aber dann ist Aron Reinhard nicht zur Stelle, er wandert in England und lehnt es ab, am folgenden Tag vom Dorf Manslagt aus aufzubrechen.
Zwei gehen los. Peter Lattewitz, Geographielehrer am Gymnasium in Aurich, kehrt aber ohne Klaus Smyrna, Bademeister aus Lübeck, zurück. Er habe Klaus im Blinden Randzelgat verloren, sagt Peter. Mit einem Ruck weggerissen von der Strömung. Aber stimmt diese Version? Lattewitz hört auch Stimmen, von Ellen, oder doch Helen? Die Stimme seiner verstorbenen Frau? Sie war bei einem Segelunfall ums Leben gekommen und spukt seither durch die Wahnvorstellungen ihres Mannes. "Wattfieber" nennt man dieses Delirium, wenn alle Konturen verschwimmen, die Trennung von Wasser und Watt verschwindet, zumal in der Dunkelheit. "Er war wie ein Bruder für mich", sagt der verstörte Wattwanderer bei der Befragung durch die Polizei. Aber der Leichenbeschauer fragt sich, wie natürlich der Tod tatsächlich gewesen sein kann - ertrunken ist Smyrna, ein exzellenter Marathonschwimmer, nicht, und eine Wunde am Ohr deutet auf einen Schlag hin.
Während sich das Gerangel um die Zuständigkeit hochschaukelt, setzen die Deutschen den titelgebenden Holländer in Marsch. Der Mittfünfziger Liewe Cupido ist deutscher Staatsbürger mit niederländischen Wurzeln. Seine deutsche Mutter ist promovierte Meeresbiologin, sein Vater war Kapitän des Kutters TX9 auf der Insel Texel, bis ihn die See nicht mehr hergab. Ein richtiger Texeler sei er nicht, beschied der Kapitänsvater seinem Sohn, dazu hätte er auf der Insel geboren sein müssen. "Wenn sein Vater verschwunden war, begannen die Tage, an denen Liewe mit seiner Mutter allein war, seiner schweigsamen, lesenden, singenden Mutter, die ihn abends in seinem Bett allein ließ." Bis in die Gegenwart hält ihn ein "Gefühl der Verlassenheit und der Erwartung" in den Nächten wach. Er wartet auf das Brummen des heimkehrenden väterlichen Fischkutters.
Der Holländer ist ein Meister des Schweigens und ein begnadeter Ermittler. Wattwanderer der Sorte Lattewitz, Reinhard und Smyrna hält er für "Effekthascher". Von Beziehungstaten versteht er viel, weswegen er zielstrebig auf das Geflecht losgeht, in dem sich die drei Wanderfreunde verstrickt haben. Dass Aron mit Maria liiert ist, der Zwillingsschwester der ertrunkenen Helen, macht die Sache nicht einfacher. Maria verachtet das Watt, und sie hat eine Rechnung offen mit ihrem Schwager.
Deen, Jahrgang 1962, legt mit "Der Holländer" sein drittes Buch in deutscher Übersetzung vor, dem Roman "Unter den Menschen" (2019) folgte im vergangenen Jahr im Mare-Verlag die Erzählung "Der Schiffskoch". Der Autor beherrscht Lakonie, und er schneidert sie seinem Ermittler wie einen Maßanzug auf den Leib. Dazu ein Schuss Komik, wenn es um die Binnendynamik der beiden streitenden Polizeiapparate, die Arroganz der Deutschen, die Lässigkeit der Holländer geht. Auch wenn die Lösung ein wenig überkonstruiert wirkt, Deen hält den Spannungsbogen straff. Er erweckt nicht den Eindruck, als habe er es auf eine Fortsetzung abgesehen, dabei wäre ein Wiedersehen mit dem Holländer eine feine Sache. HANNES HINTERMEIER.
Mathijs Deen: "Der Holländer". Roman.
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mare Verlag, Hamburg 2022. 264 S., geb.
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