Besprechung vom 29.01.2019
Vom Jahrgang Neunzehnhunderttraurig
So sieht ein Dichter aus: Matthias Weichelts reich bebildertes Porträt von Peter Huchel.
Einen Dichter, sagte Joseph Brodsky einmal, erkenne man auf den ersten Blick, ohne eine Zeile von ihm gelesen zu haben: an seinem Gesicht. Das war vor allem auf Peter Huchel gemünzt. Dass Huchel Dichter war (und was für einer), sieht man vielleicht am eindrucksvollsten auf dem Porträtfoto, das sein Stiefsohn, der Fotograf Roger Melis, 1965 in Wilhelmshorst von ihm aufnahm. Ja, so sehen Dichter aus: eine hohe, von Gram und Skepsis zerfurchte Stirn unter einem wild wuchernden, wie entsetzt zu Berge stehenden Haarschopf, prüfende Blicke unter buschigen Brauen, von Schweigen, Grimm und leisem Weltekel herabgezogene Mundwinkel über einem männlich markanten Kinn. Und erst die Augen! "Auf den Fotografien / sieht jeder wie tief Ihre Augen gesehen haben", schrieb Rudolf Haufs in seinem Gedicht "Bildnis Peter Huchel".
Huchel hat sich nie inszeniert, er wollte weder "Gräserwisperer" noch später Märtyrer auf der Heide sein. Aber wenn er in Sandalen und Baumfällerkleidung in der Redaktion der "Literarischen Welt" auftauchte, fiel er schon auf, und zuletzt kam er dem Bildnis des Dichters als vornehmer Lord oder bäuerlicher Seher ziemlich nahe. Huchel, schrieb Christoph Meckel, "lebte mit seinem Gesicht" wie andere mit ihrer Maske. Schon deshalb ist seine Behauptung "Für Photographen und Friseure war ich nie ein guter Kunde" höchstens zur Hälfte wahr. Seine vom Leben gezeichnete märkische Gesichtslandschaft war entschieden fotogen, und selbst die Schwermut der späten Jahre stand dem Zeitgenossen vom Jahrgang "neunzehnhunderttraurig" gut zu Gesicht.
Nach Bildbänden über Proust, Neruda, Robert Walser und andere Schriftsteller erscheint in der Reihe "Leben in Bildern" im Deutschen Kunstverlag jetzt auch einer über Huchel, den "großen Mann, mit dem sein Land nichts anzufangen wusste" (Lutz Seiler). Die Bilddokumente - historische Fotos, private Schnappschüsse, halboffizielle Porträts, faksimilierte Manuskripte, Briefe, Telegramme - bezeugen Huchels Rang als Lyriker, Redakteur, Netzwerker und Dissident wider Willen. Man sieht ihn als Kind im Mädchenkostüm mit seinem Bruder Fritz, 1935 mit Eberhard Meckel in Günter Eichs Sommerhaus (ein rares Zeugnis seiner inneren Emigration) und 1960 im vertrauten Gespräch mit Ingeborg Bachmann. Fotos zeigen den oft begangenen und besungenen Birkenweg hinterm Haus in Wilhelmshorst, handgeschriebene Beschwörungsformeln, mit denen der Knecht Ziegener kranke Kühe traktierte, und Günter Grass zu Besuch in Staufen. Grass' Aufforderung, für die SPD zu trommeln, empfand Huchel, nach seiner Ausreise aus der DDR aller Politik überdrüssig, als Zumutung.
Im Text beschreibt Matthias Weichelt, der amtierende Chefredakteur der von Huchel begründeten Literaturzeitschrift "Sinn und Form", seinen Vorgänger als poetisch konservativen Naturdichter, der zeitlebens aus dem Reservoir an Motiven, Metaphern und Wörtern schöpfte, die ihm Kindheit und Heimat zur Verfügung stellten. In seinem schmalen Werk sind sie immer gegenwärtig: die "wendischen Weidenmütter" um Alt-Langerwisch, ihre Urwörter und Orakel, der mystisch versponnene Großvater, der ihn Mut zum Eigensinn und die Sprache der Wälder lehrte, das Klappern der Milchkannen, der Geruch der Herbstfeuer und natürlich Anna, die geliebte Kinderfrau: "Ich frier, nimm mich ins Schultertuch. / Warm schlaf ich da im Milchgeruch. / Die Magd ist mehr als Mutter noch. / Sie kocht mir Brei im Kachelloch."
So blieb Huchel zeitlebens der "Wendenbursche", der Beschwörer alter Zauberwörter und Bannsprüche: ein leiser Magier des Worts, der als Kämpfer in lauter Zeit eine Fehlbesetzung war. Sein Freund Biermann widmete ihm sein Lied "Ermutigung", aber Huchel hatte tatsächlich Gründe, bitter zu werden. Er war nie in KPD und SED und saß doch immer exponiert und unbequem zwischen allen Stühlen. Beim Kapp-Putsch 1920 auf der falschen Seite angeschossen, warf er sich in der Weimarer Republik mit Lust und Verve in die politischen und literarischen Debatten der unorthodoxen Linken; zu seinen Freunden und Bekannten gehörten Brecht und Bloch, Wilhelm Reich, Alfred Kantorowicz, Johannes R. Becher. Die NS-Zeit überlebte er mit Mut und Glück halbwegs unbeschadet: Einmal verweigerte er einen Erschießungsbefehl, am Ende entging er selbst nur knapp seiner Hinrichtung.
Huchel wollte nie Chefredakteur von "Sinn und Form" werden; die Redaktionsarbeit rieb seine Nerven auf und hielt ihn vom Schreiben ab. Aber er machte die Zeitschrift zum Mythos. Hier sollte das Beste aus West und Ost erscheinen: bürgerliche Autoren wie Thomas Mann, Broch, Barlach oder Hans Henny Jahnn, nicht ganz linientreue Marxisten wie Bloch, Adorno und Wolfgang Harich, sogar Moderne wie Enzensberger und Heißenbüttel, aber höchstens zähneknirschend ab und zu eine Stalin-Hymne und nie ein Geburtstagsgruß für Ulbricht. Das Lavieren des "Wanderers zwischen zwei Welten" (Willy Bredel), sein bürgerlicher Humanismus, "Formalismus" und seine elitären Attitüden waren eine stete Provokation für die SED-Kulturapparatschiks.
Zwölf Jahre lang konnte Huchel, auch dank der schützenden Hände von Becher und Brecht, alle Angriffe parieren; 1962 war dann Schluss: Huchel wurde entmachtet. Er war von nun an gefangen im Tellereisen, ein Verbannter im eigenen Land, rund um die Uhr bespitzelt unter dem Stasi-Decknamen "Zersetzer". Immer tiefer zog sich Huchel in Selbstgespräche und Schweigen zurück: "Ich bette mich ein / in die eisige Mulde meiner Jahre. / Ich spalte Holz, / das zähe splittrige Holz der Einsamkeit."
Als er 1971 endlich ausreisen durfte, wurde er im Westen mit Preisen und Ehrungen überhäuft und als Kronzeuge gegen SED-Unrecht instrumentalisiert. Das schmucke Häuschen in Staufen, das ihm ein Mäzen bezahlte, konnte ihn aber nie über den Verlust von Wilhelmshorst hinwegtrösten. Seiner Heimaterde entwurzelt, blieb Huchel wortkarg und ruhelos bis zu seinem Tod 1981. Heute ist er halb vergessen. Sein Werk aber bleibt und lebt im Stillen weiter: "Das Wort, ausgesät für die Nacht, / treibt fort, wurzelt im Wind." Peter Huchels letztes Wort als Lyriker beschließt denn auch Matthias Weichelts hochkonzentriertes, einfühlsames Lebensbild: "Jahreszeiten, Mißgeschicke, Nekrologe - / unbekümmert geht der Fremde davon."
MARTIN HALTER
Matthias Weichelt: "Peter Huchel - Leben in Bildern".
Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2018. 96 S., Abb., geb.
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