Besprechung vom 29.10.2024
Wo liegt Kresko?
In seinem Roman "Das vergessene Schtetl" erzählt Max Gross vom Einbruch der Moderne
Eine grundlegende Herausforderung der gegenwärtigen Erinnerungskultur ist es, vor allem der jüngeren Generation den riesigen Verlust - im Wortsinne - zu vergegenwärtigen, den die Schoa auch in kultureller Hinsicht verursacht hat. Wie in vielen Bereichen kann natürlich auch hier die Literatur als vitaler Teil des Menschheitsgedächtnisses helfen: Scholem Alejchims Erzählungen etwa eröffnen den Blick in die untergegangene Schtetl-Welt, doch sie sind notwendig der Vergangenheit verhaftet und beantworten nicht die Frage, wohin sich dieses so bunte Leben, das fest in der jüdischen Tradition verwurzelt war, hätte entwickeln können, wäre es durch den deutschen Massenmord nicht erbarmungslos vernichtet worden.
Um solche Fragen im literarischen Möglichkeitsraum durchzuspielen, braucht es Werke, die sich an die Inszenierung einer alternativen Historie wagen. Beiträge zu diesem als Uchronie bezeichneten Genre gibt es prinzipiell viele, mit Blick auf den Holocaust allerdings sind sie aus verständlichen Gründen nur dünn gesät. Der amerikanische Journalist und Autor Max Gross, geboren 1978 und Chefredakteur des "Commercial Observer", wagt sich aber jetzt in seinem Roman "Das vergessene Schtetl" an eine solche Geschichte - und schafft eine Erzählung, in der so ziemlich alles drin ist: Spannung, (jüdischer) Witz und jede Menge Tragik.
Das Ganze beginnt mit einem nicht allzu ungewöhnlichen Konflikt: Die Dorfschönheit Pescha merkt schon kurz nach ihrer Hochzeit, dass sie ihren maulfaulen Gatten eigentlich nicht ausstehen kann. Der daraus resultierende Dauerstreit der frisch Vermählten eskaliert rasant, sodass die junge Frau nach der rasch herbeigeführten Scheidung und der damit verbundenen Schande Reißaus nimmt und ihre Heimat Hals über Kopf verlässt.
Besonders an dieser Flucht ist, dass sie tatsächlich ins völlig Ungewisse führt und damit sofort lebensgefährlich wird, denn Kreskol, das kleine Kaff, dem Pescha jetzt den Rücken kehrt, liegt völlig isoliert im polnischen Urwald und hat seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zur nächstgrößeren Stadt - außer durch die einmal im Jahr durchkommenden Sinti und Roma, die als Händler fast die ganze Produktion des Städtchens aufkaufen, aber irgendwie auch nicht wirklich zählen.
Da auch Peschas Ex-Ehemann Ismael verschwindet, ist die Sorge unter der jüdischen Bevölkerung groß: Hat der Pärchenzwist etwa zu einem Mord geführt? Schweren Herzens entschließen sich die Eliten der Stadt, an deren Spitze die Rabbis der verschiedenen Synagogen stehen, die nichtjüdischen Behörden in Smolskie, der nächstgelegenen Stadt, einzuschalten, denn mit einem solchen Verbrechen ist man in dem Schtetl, das noch wie im 19. Jahrhundert lebt, überfordert.
Da sich keiner der Altvorderen die beschwerliche Reise durch den dichten Wald zumuten mag, wählt man einen Außenseiter, der sich in die gar nicht so nahe Nachbarschaft aufmachen soll. Die Wahl fällt auf Jankel Lewinkopf. Er ist der Sohn einer sexuell äußerst aktiven Mutter und eines unbekannten Vaters und hat es in der traditionellen Gesellschaft alles andere als leicht. Da er ein freundlicher Geselle ist, der selten Nein zu etwas sagt, bricht er schließlich auf - und erlebt den Schock seines Lebens, als er in Smolskie ankommt.
Wie nach einer Zeitreise landet er in einer Welt, die ihm völlig unbekannt ist. Von Autos, Strom, Sanitäranlagen, geschweige denn dem Internet hat der junge gläubige Jude naturgemäß noch nie gehört. Selbstverständlich halten ihn die Bewohner der polnischen Stadt für verrückt - und nach kurzer Zeit landet Jankel denn auch in der Psychiatrie. Die dortigen Ärzte sind indes verblüfft von der Kohärenz der Geschichten, die Jankel ihnen erzählt, Sie können trotzdem der Ungeheuerlichkeit eines vergessenen Ortes keinen Glauben schenken: Von Kresko, der jüdischen Siedlung, hat schließlich keiner von ihnen je gehört, und auch intensivste Recherchen bringen nichts zu diesem Un-Ort hervor.
Nach und nach dämmert es den meisten der Psychologen aber, dass doch etwas dran sein muss an dieser scheinbaren Wahnwelt ihres Patienten - und mit den Sinti und Roma finden sich schließlich auch noch die benötigten Zeugen. Von da an nimmt das Unheil seinen Lauf für Kreskol und seine Bewohner: Das 21. Jahrhundert entdeckt das verschlafene Nest und überhäuft es mit all seinen Segnungen. Neue Geschäfte schießen ebenso aus dem Boden wie Neubauten; Touristen aus aller Welt kommen und bescheren Kreskol ein nie gekanntes Wirtschaftswachstum.
Doch mit der Moderne kommt auch die ganze Geschichte über Nacht zur jüdischen Gemeinschaft: Voller Wucht trifft die Einwohner die schier unglaubliche Wahrheit des Holocaust und all seiner Folgen. Erst nach einiger Zeit enthüllt der namenlose Ich-Erzähler, offenbar ein Einwohner der jüdischen Gemeinde, der immer wieder auch über eine auktoriale Sicht zu verfügen scheint, dass einige wenige wohl doch schon deutlich früher erfahren hatten, was sich zwischen 1939 und 1945 ereignet hatte, dieses Wissen aber wohlweislich für sich behielten.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Man ahnt als Leser natürlich früh, dass das alles für Kreskol (und auch für Pescha und Jankel, die sich zwischenzeitlich gefunden und verliebt haben) nicht wirklich gut ausgehen wird. Ein solches Happy End wäre auch in dieser kontrafaktischen Geschichte nicht angemessen, nicht nach dem Zivilisationsbruch und den sechs Millionen Ermordeten.
Die Wendung hin zum (fast) tragischen Finale kommt, als nicht nur alte antisemitische Reflexe wieder zu greifen beginnen, sondern als rechte Politiker und Boulevardmedien vermuten, dass die Geschichte von Kreskol ein groß angelegter Schwindel "der" Juden sein könnte, um sich zu rächen und zu bereichern: Diese völlig paradoxe Art des Geschichtsrevisionismus wird dazu führen, dass das kleine Schtetl abermals von der Karte verschwindet.
Mit "Das vergessene Schetl" ist Max Gross ein Roman gelungen, der bleiben wird - und dem Mairisch-Mitbegründer Daniel Beskos eine Übertragung ins Deutsche, die "kongenial" zu nennen fast noch eine Untertreibung wäre. SASCHA FEUCHERT
Max Gross: "Das vergessene Schtetl".
Aus dem Englischen von Daniel Beskos. Katapult Verlag, Hamburg 2024. 400 S., geb.
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