Besprechung vom 15.06.2024
Warum erinnere ich mich nicht?
Welcher literarische Blick auf die DDR ist angemessen? In die hiesige Diskussion über international erfolgreiche deutsche Romane platzt das Debüt einer finnischen Autorin: Meri Valkama erzählt von einer finnischen Familie im Ost-Berlin der Achtzigerjahre. Aus guten Gründen.
Von Fridtjof Küchemann
Tsatsiki in der DDR? Angela Plöger war skeptisch. Dutzende Bücher hat die Übersetzerin bereits aus dem Finnischen übertragen, darunter Werke von Katja Kettu und Sofi Oksanen. Bei der Arbeit an "Deine Margot", dem ersten Roman von Meri Valkama, kamen ihr Zweifel. Doch die finnische Debütautorin blieb bei ihrem Detail: Ja, es hat Mitte der Achtzigerjahre bei einer Silvesterfeier auf einem Buffet in Ost-Berlin Tsatsiki geben können. Meri Valkama muss es wissen. Denn sie war dabei.
Nach einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus erzählt die Schriftstellerin vergnügt von den E-Mails ihrer deutschen Übersetzerin: Nicht allein als Journalistin weiß sie, welche Bedeutung Faktentreue hat. Inzwischen Anfang vierzig, hatte sie noch als Kind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfahren, was es heißt, wenn die eigenen Erinnerungen der offiziellen Erzählung im Schulunterricht, in Büchern, Filmen und Serien zuwiderlaufen. Auch ohne die besonderen ideologischen Verzerrungen, mit denen die DDR und die Bundesrepublik einander beargwöhnten. Selbst in einem Land wie Finnland, das freundschaftliche Verbindungen zu beiden Teilen Deutschlands gepflegt hat.
Meri Valkamas Vater ist in den Achtzigerjahren Korrespondent der finnischen kommunistischen Zeitung "Tiedonantaja" in Ost-Berlin gewesen: in festem Glauben an die Segnungen des Sozialismus, zugleich mit allen Freiheiten eines Gastes. Und die Familie hat ihn begleitet. Die Konstellation hat Valkama für ihren Roman übernommen, für ein Projekt, von dem sie anfangs, beim zweijährigen Studium des Kreativen Schreibens in Helsinki, nicht viel mehr wusste, als dass die Geschichte in Ost-Berlin spielen und von einer Suche erzählen sollte.
In "Deine Margot" reist Vilja, eine junge finnische Journalistin, im Jahr 2011 auf den Spuren ihres gerade verstorbenen Vaters Markus nach Berlin. In seinem Nachlass hat sie Briefe gefunden, die ein befremdliches Licht auf ein ganzes Kapitel der eigenen Familiengeschichte werfen, nämlich Liebesbriefe einer Frau aus Berlin, mit der Markus Siltanen, von 1983 an für ein paar Jahre Korrespondent im Ostteil der Stadt, eine leidenschaftliche Affäre gehabt haben muss, unterschrieben mit einem Decknamen: "Deine Margot". Briefe voller Träume, voller Sehnsucht und Ungeduld, geschrieben in den Jahren nach der Rückkehr der vierköpfigen Familie Siltanen nach Finnland, Briefe der Mahnung an sein Versprechen, sich von seiner Frau zu trennen und so schnell es geht zur Geliebten zurückzukehren - mitsamt seiner kleinen Tochter.
Eine erste Zeitebene des Romans erzählt von Viljas Suche, die sie von Berlin bis an die Ostsee und nach Tschernobyl führt, eine zweite aus den Achtzigerjahren. Unterbrochen werden die beiden Stränge durch zwei Handvoll Briefe. Der letzte, mit dem das Buch beginnt, geschrieben am 8. Oktober 1989, schildert Ereignisse am vierzigsten Jahrestag der Gründung der DDR, kaum einen Monat vor dem Fall der Mauer. Mit dem ältesten aus dem August 1987 endet das Buch.
Vilja war zwei, als die Familie auf die Fischerinsel in Ost-Berlin zog. Achtundzwanzig Jahre später hat sie keine Ahnung, welche Frau ihr damals so nah gewesen sein kann, dass sie sich zutraute, die Mutterrolle für sie zu übernehmen. Die richtige Mutter will, Jahrzehnte nach der Trennung von Markus, nichts mehr von der Zeit in der DDR wissen. Auch deren beste Freundin aus alten Tagen, die Vilja 2011 in Berlin als Erste aufsucht, kann wenig weiterhelfen, über die Bereitschaft, die Briefe zu lesen, und eine Idee hinaus, wen sie als Nächstes fragen würde. Vilja muss herausfinden, wer diese Margot ist. Und bald wird ihr klar: Margot hat ein Recht zu erfahren, dass ihr Geliebter von einst gestorben ist.
Margot: Weiß Meri Valkama denn nicht, dass kaum ein Name, mit Ausnahme vielleicht von Erich, in Deutschland im Zusammenhang mit der DDR stärkere Aversionen auslöst als dieser? Die Frage lässt die Autorin auf der Literaturhaus-Bühne lächeln. Die Assoziation mit Margot Honecker ist Absicht: Im Roman adressiert "Margot" ihre Briefe an "Erich". Es ist die kleine Vilja, die das Liebespaar auf die Idee der beiden Namen gebracht hatte. In einer seltsamen Begeisterung für Erich Honecker, dessen Porträts in der DDR allgegenwärtig waren, hatte die Kleine auf einem Zeitungsfoto des Politikerpaares "Vati" und "Mutti" erkannt und vom Bild auf die beiden Erwachsenen gezeigt, mit denen sie gerade ein paar Tage an der Ostsee verbrachte. Während ihre leibliche Mutter mit dem älteren Bruder zur Erholung in der finnischen Heimat ist: Matias hatte in Ost-Berlin gar nicht mehr aufhören können zu husten.
In Finnland ist "Deine Margot" mit mehr als 70.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller. Hierzulande steht der Roman, Mitte Februar in deutscher Übersetzung von der Frankfurter Verlagsanstalt veröffentlicht, in einer hitzigen Diskussion über das angemessene Erzählen über die DDR - und doch auch quer zu ihr. Gerade hat Adam Soboczynski in der Wochenzeitung "Die Zeit" mit Blick auf die begeisterte Aufnahme von Büchern wie "Kairos" von Jenny Erpenbeck oder Brigitte Reimanns frisch übersetztem Roman "Die Geschwister" aus dem Jahr 1963 im englischsprachigen Raum festgestellt, die Bücher würfen "einen wohlgesinnten, mitunter sogar liebevollen Blick auf den Sozialismus". Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht aktuell gar von "DDR-Kitschbüchern" (F.A.Z. vom 4. Juni).
Meri Valkama hatte bei einer Handvoll Buchvorstellungen in Deutschland Gelegenheit genug, zu bemerken, dass die deutschen Reaktionen in Ost und West auf ihren Roman durchaus unterschiedlich ausfallen. Regelrecht verärgert hätten manche Leser und Rezensenten im Westen auf das Buch reagiert, beglückt hingegen viele aus dem Osten, erzählt sie im Frankfurter Literaturhaus. In einer Debatte über den zulässigen oder unzulässigen Blick auf die DDR setzt die Autorin einen Akzent von außen, aus einer Perspektive, die keiner der beiden einstigen Seiten angehört.
Die Stasi ist präsent in "Deine Margot", als Lebensumstand, als Bedrohung, als Druckmittel. Ein Freund der Familie landet in Hohenschönhausen. Die Angst, dass sich das Politbüro im Herbst 1989 eher am Tausende Tote fordernden Vorgehen der chinesischen Genossen nach den Studentenprotesten auf dem Tiananmen-Platz orientieren könnte als an Gorbatschows Perestroika, zieht sich durch viele Szenen. Zugleich stellen die neu gefundenen Freunde in den Achtzigerjahren den finnischen Gästen nicht ohne Stolz ein Gesundheitssystem vor, in dem selbst der Arztbesuch zu Hause die Familie des Erkrankten nichts kostet, und eine Kinderbetreuung, die auf die Bedürfnisse eines gemeinsam berufstätigen Elternpaares zugeschnitten war.
Gleich in der ersten Szene verfolgt Markus, wie eine junge Frau mit ihrem Sohn auf dem Alex von ZDF-Reportern zu den Weihnachtswünschen der DDR-Bürger befragt wird - und die West-Journalisten die politisch-kritische Antwort der Mutter übergehen, um den Traum des Vierjährigen von einem roten Fahrrad mit dem Verweis auf den alltäglichen Mangel in der DDR zu kommentieren: Während der finnische Journalist - "hoffnungsvoll, vielleicht naiv", wie Meri Valkama es sieht - berichten möchte, auf welch gutem Weg der real existierende Sozialismus ist, suchen die westdeutschen Kollegen nach Gelegenheiten, sein Scheitern vorzuführen.
Die Autorin schildert das Leben der finnischen Familie auf der Fischerinsel, Kindergarten-, Straßenszenen und Feste. Sie begleitet Viljas zunehmend verzweifelte Mutter auf Ausflüge in die Subkultur der DDR und den Vater, Anfang November 1989 noch einmal zurück in Ost- Berlin, vor das Podium, auf dem Günter Schabowski verkündet, die Reisebeschränkungen sollten "sofort, unverzüglich" gelockert werden. Und von dort mit seiner Geliebten in den Westteil der Stadt. Doch "Deine Margot" ist mehr als die Darstellung der sozialistischen Gesellschaft im Ost-Berlin der Achtzigerjahre, motorisiert durch eine brenzlige Familien- und Liebesgeschichte.
Auf den mehr als fünfhundert Seiten des Romans nimmt sich Meri Valkama die Freiheit, auch unpolitische Themen auszuleuchten. 1984 hat die kleine Vilja die Geliebte ihres Vaters "Mutti" genannt und ihr damit einen großen Wunsch erfüllt. Die Schilderungen dieser Sehnsucht haben etwas geradezu Beklemmendes. Im Jahr 2011 behandelt Viljas Mutter Rosa die Tochter ihres Sohnes, das eigene Enkelkind also, als gäbe es ein großes Loch in ihrem Leben, während Vilja ihrerseits mit aller Behutsamkeit und einiger Scheu ihre Beziehung zu Hertta erkundet, der kleinen Tochter ihrer Partnerin Saga. Die soziale Elternrolle ist ein großes Thema für sie, bestätigt Meri Valkama im Gespräch. "Auch wenn wir immer noch so tun, als lebten wir im Zeitalter der Kernfamilie: Immer mehr Kinder wachsen mit getrennt lebenden Eltern auf. Stattdessen haben andere Erwachsene eine Bedeutung im Leben mancher Kinder, die umgekehrt mit keinerlei Rechten verbunden ist: Wenn die Beziehung unter den Erwachsenen zu einem Ende kommt, ist es auch mit der zum Kind vorbei, so elternähnlich sie auch war. Das tut weh."
Was sehen wir in einander? Was sehen wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln im gemeinsamen Leben, was ertragen wir zu sehen, was können wir nicht mehr sehen, und wie verändert sich das Gesehene allein durch unseren Blick? Auch wenn Meri Valkama ihr Buch auf die stabilen Füße der Recherche stellt, selbst wenn sie - auch das vielleicht dem journalistischen Drang nach Eindeutigkeit geschuldet - ihre Figuren und deren Motive in manchen Szenen fast überdeutlich konturiert und koloriert, bleiben die Grundfragen ihres Buchs angenehm offen, und ihre Antworten gelten um so mehr, als sie keine Gültigkeit beanspruchen außerhalb ihrer Geschichte.
Vor acht, neun Jahren ist Meri Valkama noch einmal für längere Zeit nach Berlin zurückgekehrt, um mit einem Stipendium an der Freien Universität zu forschen - zu Korrespondenten in der DDR. Der geplante Dokumentarfilm zum Thema ist nie fertig geworden, aber die Gespräche mit Zeitzeugen waren unschätzbar für ihren Roman, sagt die Schriftstellerin. Und zum Film ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Rechte sind bereits verkauft: Juho Kuosmanen, vor drei Jahren in Cannes für seine Verfilmung von Rosa Liksoms "Abteil Nr. 6" mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, soll "Deine Margot" als Miniserie umsetzen.
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