Besprechung vom 19.01.2018
Lippenbekenntnisreligion?
Überall Feinde: Michael Blume deutet die Krise des Islam
An Katastrophenszenarien mangelt es nicht, wenn es um den Islam - insbesondere in Europa - geht. Meist drehen sie sich um eine prophezeite Übermacht der Muslime, etwa in Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" oder bei Thilo Sarrazin. Ein gegenläufiges Niedergangsszenario der anderen Art entwirft der Religionswissenschaftler Michael Blume. Ihm zufolge ist nämlich der "Islam in der Krise". Um diese These zu belegen, räumt er mit einigen Vorurteilen auf.
So erkennt Blume keine breite Zunahme islamischer Religiosität in Deutschland, sondern vielmehr einen "stillen Rückzug" vieler Muslime aus der Religion. Statistiken, die aus der islamischen Welt stammende Deutsche oder Zugewanderte pauschal als Muslime zählen, trügen zu dem verfälschten Eindruck ebenso bei wie die spezielle Regelung der Religionszugehörigkeit im Islam. Der geht in Ermangelung einer Taufe und einer Staatskirche von einer automatischen Vererbung der Konfession aus, kennt zugleich aber in der Regel keine Möglichkeit, aus dem Glauben auszutreten.
Aber auch die schwache institutionelle Vertretung durch die Islamverbände habe einen Anteil daran, dass viele Muslime eine wachsende innere Distanz zum Islam in seiner organisierten Form aufbauten. Dies gelte ungeachtet der Tatsache, dass Muslimsein für viele, insbesondere Jüngere, in Deutschland zu einem "Identitätsmarker" geworden ist. "Der Islam wird zu einer bloßen Bekenntnisreligion - und häufig zu einer Lippenbekenntnisreligion", schreibt Blume.
Ein anderes Feld, auf dem er Anzeichen eines Niedergangs findet, ist die Demographie: In Teilen der islamischen Welt, vor allem unter Bessergebildeten, sinken die Geburtenraten. Blume führt das auf die "Traditionalismusfalle" zurück: Frauen sind häufiger als früher berufstätig, ein Umstand, der eine besondere Herausforderung für konservative Religionsgemeinschaften darstellt. Denn diese könnten ihren Kinderreichtum nur dann aufrechterhalten, "wenn sie entweder ihre Lebenswelten stabil halten (...), oder wenn sie sich auf die schnellen Veränderungen durch neue Angebote wie Kindergärten oder Schulen einstellen". Dies gelinge beispielsweise orthodoxen jüdischen Gemeinden oder den Amischen besser als der islamischen Welt, in der Junge und Bessergebildete in der Regel keine aktive Familienpolitik und kaum Religionsfreiheit vorfinden - und daher entweder weniger Kinder bekommen oder auswandern.
Während es Blume gelingt, diese mittel- bis langfristig wirksamen Phänomene, die dem Alltagserleben manchen Lesers widersprechen dürften, differenziert aufzubereiten und zu belegen, überzeugen andere Teile des schlanken Bandes weniger. Etwa die Kapitel über die Erstarrung des Islams aufgrund des Verbots der Druckerpresse im fünfzehnten Jahrhundert, über den Verschwörungsglauben oder über den "Fluch des Öls", die teilweise selbst auf etwas hinauslaufen, was Blume eigentlich demontieren möchte - eindimensionale Erklärungsmuster.
Oft gelingt es ihm jedoch, aufschlussreiche Ansätze zu finden, um die geistige Krise der islamischen Welt zu belegen und zu deuten. So sieht er im verbreiteten Glauben an eine antiislamische Weltverschwörung auch eine Krise des Monotheismus - nicht mehr der Glaube an das absolut Gute stehe im Mittelpunkt des Denkens, sondern der Glaube "an ein weltbeherrschendes Böses, gegen das zu kämpfen ist". Für Blume belegt das letztlich das Versagen der islamischen Theologie. Dies zeige sich nicht zuletzt darin, dass die maßgeblichen Verschwörungsmythen, die die islamische Welt heute prägen, seit dem neunzehnten Jahrhundert unkritisch aus der westlichen Welt übernommen worden seien. Ironischerweise werden westliche Bildungsangebote auf anderen Feldern zugleich abgelehnt - auch sie seien, so heißt es, Teil der Verschwörung gegen den Islam.
CHRISTIAN MEIER
Michael Blume: "Islam in der Krise". Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug.
Patmos Verlag,
Ostfildern 2017. 192 S.,
geb.
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