Besprechung vom 27.05.2021
Als die Zeit zu Ende ging
Michael Görings Roman "Dresden" über den Alltag in den letzten Jahren der DDR
Für die beiden Kölner Studenten Fabian und Till ist es in erster Linie ein Abenteuer, als sie 1975 nach Dresden in die DDR reisen. Ungewöhnlich ist das, fahren doch ihre Kommilitonen und auch deren Familien sonst eher nach Italien, Frankreich oder Griechenland. Die DDR, inzwischen fast fünfzehn Jahren abgeriegelt durch eine Mauer, ist als Reiseziel für viele Westdeutsche nicht attraktiv und oft auch einfach irrelevant. "Möchte überhaupt wissen, was ihr in der Zone zu suchen habt. Wandern könnt ihr auch im Sauerland", macht etwa Fabians Mutter ihrem Sohn beim Zwischenstopp im heimischen Paderborn Vorwürfe. Doch der hat über eine Tante Kontakt zu Verwandten in Dresden aufgenommen, bei denen die beiden während ihres Aufenthalts unterkommen würden. Fabian will die Reise auch nutzen, um mit eigenen Augen zu sehen, ob es im Osten nur Mangel und Unterdrückung gibt, wie seine Eltern erzählen, oder ob es dort so rosig ist, wie es "die Typen von der Marxistischen Gruppe an der Uni behaupten". Stimmen werde wohl beides nicht, vermutet er.
Aus diesem Auftakt entwickelt sich - gemessen an dem, was bislang so über die DDR erschienen ist - ein erstaunlich realistischer Roman, was auch daran liegt, dass der Hamburger Autor Michael Göring in den siebziger und achtziger Jahren häufig in Dresden war und so beim Schreiben auf eigene Erlebnisse und Details zurückgreifen kann. Anfang der siebziger Jahre herrscht in der DDR so etwas wie Aufbruchstimmung, weil der neue Staatschef Erich Honecker die Zügel zunächst lockerer lässt als sein Vorgänger Walter Ulbricht. Auch in Dresden hat die Roman-Familie Gersberger die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der DDR nicht aufgegeben. Vater Ekkehard ist Professor an der Hochschule für Verkehrswesen und Mutter Gabi Klavierlehrerin, ihre Tochter Anne, im gleichen Alter wie Fabian und Till, macht eine Ausbildung zur Heilpädagogin, und der fünfzehnjährige Sohn Kai geht noch zur Schule. Aus dem warmherzigen Empfang bei den Gersbergers, die Fabian und Till wie eigene Kinder in die Familie integrieren, wird eine tiefe Freundschaft mit fast jährlichen Wiedersehen, was auch daran liegt, dass Fabian mehr als ein Auge auf Anne geworfen hat, die bereits verheiratet und neun Monate nach dem Besuch auch Mutter ist.
Die Besuche und ausgiebigen Gespräche mit den Gersbergers geben en passant einen differenzierten Einblick in den Alltag, der eben nicht nur aus Mangelwirtschaft und Stasi-Angst bestand, sondern auch aus einem von Zusammenhalt geprägten Familienleben, vielen Ausflügen, Kultur und Literatur. Und auch zu essen gab es stets genug. Fabian gerät fast schon ins Schwärmen, doch wird er bald auch auf die bittere Seite des Lebens in der DDR gestoßen. Nach der Biermann-Ausbürgerung verbarrikadiert die SED-Führung das Land auch mental. Die zweite Generation, also schon in der DDR Geborene wie Gabi und Ekkehard, sehen sich zunehmend betrogen, stehen ungläubig, hilflos und schließlich resigniert dem Verfall auf allen Ebenen, in Betrieben wie staatlichen Stellen, gegenüber. "Aber weglaufen verändert gar nichts. Es ist eher verantwortungslos", sagt Ekkehard zu seinem Sohn. Der verkörpert die dritte Generation, die den Glauben an eine Zukunft in diesem Land längst verloren hat: Kai wird bei einem Fluchtversuch in den Westen gefasst und ins Gefängnis gesteckt. Danach schlägt er sich als freier Künstler durch, mit Hang zum Alkohol.
So entwickelt sich der Roman zu einem Kaleidoskop der Endzeit in der DDR, in dem es auch um den zwischen Honecker und Strauß eingefädelten Milliardenkredit, um Tschernobyl, die Umweltbewegung und Perestroika in der Sowjetunion und die zunehmende Zahl an Menschen geht, die ausreisen und nicht mehr zu schließende Lücken hinterlassen - an ihren Arbeitsplätzen, aber auch in ihren Familien. Zwar webt sich diese Endzeitstimmung wie ein dichter werdendes Spinnennetz durch die zweite Hälfte des Buches, doch präsentiert der Autor den Westen nicht als alleinige Alternative, die er trotz allem für viele Ostdeutsche auch nicht war. "Nichts gegen euch", sagt etwa eine Freundin von Kai zu Fabian und Till: "Aber eigentlich sind wir's hier leid, immer auf den tollen Westen zu schauen und uns minderwertig zu fühlen." Wenn er bei Kongressen so ein Herabschauen von Westkollegen spüre, entgegnet daraufhin Ekkehard, fühle er Trotz in sich aufsteigen, und er wolle "dass wir hier mit unseren Leistungen ernstgenommen werden". Die Wahrheit - speziell in den achtziger Jahren - sei allerdings: Der Trotz gehe zunehmend ins Leere.
Auf diese Weise liefert das Buch auch Erklärungen für Ereignisse, die zweieinhalb Jahrzehnte nach der Einheit im Osten mit Wucht hervorbrechen und vornehmlich im Westen für Verwunderung sorgen werden. Die Anfänge sowohl von Pegida als auch in Teilen der Ost-AfD waren auch späte Ausbrüche dieses durch Wiedervereinigung und Neuorientierung zunächst verschütteten Trotzes. Die Handlung des Romans selbst kulminiert schließlich in den Ereignissen des Herbstes 1989. Kai gelangt via Prager Botschaft endlich in den Westen, während Fabian abermals nach Ost-Berlin fährt, wo Annes Sohn, der im Kreuzchor singt, einen Auftritt hat.
Die große Stärke des Buches sind zweifellos die vielen facettenreichen Gespräche zwischen ost- und westdeutschen Protagonisten, die beim Lesen eine ganze Menge in den Diskussionen über die DDR bis heute fehlenden Wissens vermitteln und durchaus Verständnis dafür wecken könnten, wie die Menschen im Osten wurden, was sie sind. Zu bemängeln bleibt letztlich nur, dass der Autor das in Dresden und Umgebung gebräuchliche Wörtchen "Nu" in seiner wörtlichen Rede fast durchweg falsch verwendet. Aber das gibt hier die Gelegenheit, über dieses häufig auftretende Phänomen aufzuklären: "Nu" ist keine Vokabel des Versicherns im Sinne von "gell", "ne" oder "wa", sondern schlicht ein Synonym für "Ja". Der Beispielsatz lautet also: Sollte man dieses Buch lesen? - Nu.
STEFAN LOCKE
Michael Göring: "Dresden". Roman einer Familie.
Osburg Verlag, Hamburg 2021. 302 S., geb.
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