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Besprechung vom 08.03.2022
Um die Brüche soll es gehen
Vermischte Nachrichten: Michael Wildt möchte Deutschland in den Jahren 1918 bis 1945 in ungewohnten Perspektiven zur Darstellung bringen.
Zerborstene Zeit" heißt ein neues Buch über Deutschland in den Jahren 1918 bis 1945. Braucht es ein solches Buch noch nach vielen anderen, die dazu bereits erschienen sind? Die Frage hat sich der Autor Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, selbst gestellt: "Muss wirklich noch einmal berichtet werden, dass Heinrich Brüning 1930 Reichskanzler geworden ist?" Seien nicht "neue deutsche Geschichten" vonnöten, in denen sich "ungewöhnliche, ungewohnte Perspektiven" öffneten? Nun, selbstverständlich sind solche Bücher erwünscht. Aber was versteht der Autor darunter? Unter anderem möchte er den Blick aus dem Nachhinein vermeiden und stattdessen die zeitgenössischen Wahrnehmungen in den Mittelpunkt stellen. Das hofft man ja eigentlich von jeder historischen Arbeit. Aber Wildt will daraus einen besonderen Vorzug machen, so spielen Tagebuchaufzeichnungen, gern ausführlich zitiert, eine große Rolle.
Doch lange Quellenzitate entheben den Autor nicht der Aufgabe, selbst Stellung zu nehmen, die Quellen einzuordnen und zu bewerten. Die Zeitgenossen nehmen vieles wahr und sehr Verschiedenes. Wie treffend beobachten sie, wie repräsentativ sind ihre Eindrücke? Wildt rühmt die Revolution in München, sie habe gesiegt "im Handstreich mit Entschlossenheit, Wagemut und Glück". Aber er zitiert auch Oskar Maria Graf, den "anarchistischen Bohemien": die Revolution "war langweilig, sie war harmlos, sie war unerträglich. Sie war eine Posse, und dazu noch eine schlechte", die Revolutionäre "wie ein polternder Veteranenverein". Was nun soll der Leser mit diesem Zitat anfangen? Spricht sich darin die kraftvolle, aber nicht unbedingt kluge Meinung eines "anarchistischen Bohemiens" aus? Oder hat dieser doch die Schwäche der Münchner Revolution bezeichnet? Der Autor hält sich zurück, der Leser weiß nicht, was er nun davon halten soll. Man kann das perspektivenreich nennen, aber ein Moment der Urteilsschwäche ist dabei.
Und auch sein Versprechen, den Sichtweisen der damaligen Akteure Geltung zu verschaffen, hält Wildt nicht so recht ein. "Mit großer Geste" habe Friedrich Ebert im Dezember 1918 die heimkehrenden Marschkolonnen begrüßt: "Nie haben Menschen Größeres geleistet und gelitten als Ihr." "Große Geste" - ist das nicht so viel wie hohles Reden? Bricht hier nicht doch die Überlegenheit des Nachgeborenen durch, der im Ruhm militärischer Bewährung den Keim kommenden Unglücks sieht?
Dabei bedeutet die Kränkung durch die Niederlage 1918 eine ungeheure, uns heute nicht leicht verständliche Belastung der jungen Republik. Harry Graf Kessler lässt in seinem berühmten Tagebuch unter dem 19. Februar 1919 den "U-Boot-Matrosen Willy" zu Wort kommen. Gefragt, warum er so bedrückt sei, "gab er schließlich scheu zu, dass er die Auslieferung der Flotte nicht verwinden könne. Auf dem U-Boot hätten sie . . . Kameradschaft geübt, Schweres und Schönes erlebt und immer habe es . . . geheißen: 'Nach den schweren Stunden mutig sein!'" Er besitze noch eine Fotografie des U-Boots, "die könne man ihm wenigstens nicht nehmen". Kessler resümiert, dass die "fast gedankenlose Verzweiflung des armen tapferen Jungen . . . auch zu unserer Volkstragödie" gehöre. Oder man erinnere sich, dass Käthe Kollwitz zur Heimkehr ihres überlebenden Sohnes noch einmal die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreiches hisste, "die liebe deutsche Fahne" - mit einem roten Wimpel.
Wildts Wunsch war es, ein originelles Buch zu schreiben mit neuen Fragen. Eines von zwölf Kapiteln widmet er dem Rassismus gegenüber den Schwarzen in Weimarer Republik und NS-Zeit. Josephine Baker und ihre Auftritte in Deutschland bieten ein schönes Beispiel. Wildt beobachtet den Rassismus in den Kritiken über Baker, ist aber selbst nicht ganz trittsicher. Über den Cakewalk, der den Weißen als "Negertanz" galt, heißt es: "Im Cakewalk eilen die Füße dem Kopf voraus, ganz im Unterschied zur kopfgesteuerten Tanzhaltung in Europa." Der Europäer gesteuert vom Kopf, der Schwarze von seinen Füßen?
"Die rassistische Politik des NS-Regimes richtete sich gegen jüdische wie auch gegen schwarze Menschen", behauptet Wildt und begründet damit die Bedeutung des Themas. Aber dieser Satz übergeht die sehr unterschiedliche Energie der Bösartigkeit. Das Selbstverständnis des Nationalsozialismus bestand im Antisemitismus, der in die Vernichtung der Juden führte. Wenn ein Schwarzer wegen "Rassenschande" verurteilt wurde und im KZ starb, so ist das Unrecht offenbar. Aber er wurde eben nicht getötet, allein weil er ein Schwarzer war. Und genau das macht den Unterschied zum Schicksal der Juden aus.
Dabei fördert der Wunsch, von den Jahren 1918 bis 1933 neu zu erzählen, auch zutage, was den Leser beeindruckt, etwa den Exkurs zur Ernährung einer Arbeiterfamilie in der Weltwirtschaftskrise. "Einmal in der Woche will doch der Mensch ein bisschen Fleisch haben. Dafür hungern wir aber die letzten beiden Tage von der Woche." Und höchst interessant die Überlegung, die Explosion der Gewalt im Novemberpogrom 1938, die selbst die NS-Führung überraschte, sei nicht allein aus antisemitischem Hass zu erklären. Die Spannungen des Jahres, vor allem die "Sudetenkrise", die Europa bereits an den Rand des Krieges brachte, den auch die Deutschen fürchteten, habe eine "gewalttätige Aufladung" bewirkt, die sich im November dann gegen die Juden richtete.
Der Platz für überraschende Themen und Exkurse, eine ausführliche historische Reportage zur Konferenz von Locarno etwa, wird aber durch erstaunliche Lücken gewonnen. "Zerborstene Zeit" ist so ein in hohem Maße uneinheitliches Buch geworden, was allerdings nicht gleich auffällt, weil der Autor gut erzählt, Quellen ausführlich zu Wort kommen lässt und damit sein Publikum bei Laune hält. Uneinheitlichkeit wird Wildt auch nicht als Nachteil verstehen. Er möchte ja "angesichts der Zerrissenheit des zwanzigsten Jahrhunderts die Brüche und Diskontinuitäten" zeigen.
Lassen wir offen, ob "Zerrissenheit" mehr ist als ein rasch vergebenes Prädikat und andere Epochen sich als weniger zerrissen empfunden haben. Aber die Auswahl des Berichtenswerten ist hier doch sehr frei. Kann eine Darstellung der Weimarer Zeit wirklich auf die der Reichsverfassung verzichten, obwohl deren Bedeutung für das Scheitern der Republik ein wichtiges Thema ist? Die Reparationen kommen nur am Rande vor, der Young-Plan, um den eine wüste Agitation der Rechten entfacht wurde, gar nicht. Überhaupt spielen wirtschaftliche Fragen nur eine geringe Rolle. Der Zweite Weltkrieg gerät erst in seinen letzten Monaten ins Blickfeld. Die Ermordung der Juden wird ausführlich geschildert, genauer: die Zustände in den Lagern. Aber der Weg zur sogenannten "Endlösung", der ja nicht ganz klar ist, aber darin so bezeichnend für das Regime, bleibt unerörtert.
Wird sich ein Lehrer anhand dieses Buches auf den Unterricht vorbereiten, kann er seiner Klasse einiges Interessantes vermitteln, Dinge, die die Schüler nicht leicht vergessen werden. Aber wenn die aufgeweckten unter ihnen anfangen nachzufragen, könnte es brenzlig werden. Unser Lehrer sollte unbedingt noch ein zweites, systematischer angelegtes Buch gelesen haben. STEPHAN SPEICHER
Michael Wildt: "Zerborstene Zeit". Deutsche Geschichte 1918 bis 1945.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 638 S., Abb., geb.
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