Miranda July ist eine der aufregendsten Künstlerinnen unserer Zeit. Ihre Kinofilme, Kunstaktionen und ihre Bücher werden weltweit gefeiert und sehnsüchtig erwartet. Ihr neuer Roman »Auf allen vieren« beweist erneut, dass diese Autorin ihresgleichen sucht.
Eine mittelmäßig bekannte Künstlerin schenkt sich selbst zum 45. Geburtstag einen Trip von der Westküste der USA nach New York. Sie möchte sich selbst etwas beweisen und plant die Tour alleine mit dem Auto, raus aus der Komfortzone. Nach zwei Wochen muss sie wieder zurück sein, bei Mann und Kind, aber vor allem, weil die größte lebende Popsängerin sie treffen möchte, um über ein gemeinsames Projekt zu sprechen. Doch weit soll sie nicht kommen. Wenige Kilometer von ihrem Vorstadthaus entfernt, verliebt sie sich vermeintlich in den Mann, der ihre Autoscheibe an der Tankstelle saubermacht, Davey. Sie mietet sich in einem billigen Motel ein, lässt ihr Zimmer von Daveys Frau völlig neu einrichten und imaginiert sich in ein anderes Leben hinein.
Ein großer Roman über Weiblichkeit abseits der Norm und Lust außerhalb von Konventionen.
Besprechung vom 05.05.2024
Drei, zwei, eins, los!
Ein queerer Porno sexueller Selbstbestimmung vor kalifornisch coolen Kulissen: "Auf allen vieren" von Miranda July
Von Tobias Rüther
Verlage verschicken von ihren neuen Büchern, bevor die im Handel erscheinen, Vorabexemplare. Zum Glück geht es auch digital, das spart Papier und macht die Lektüre leichter, weil man mit einer entsprechenden App Passagen anstreichen, Notizen machen, Sätze markieren kann, um sich diese Mitschriften dann anschließend per Mail zu schicken. Die E-Mail mit der Mitschrift zu "Auf allen vieren", so heißt der neue Roman der amerikanischen Künstlerin, Regisseurin und Autorin Miranda July, blieb aber dreimal hintereinander im Spamfilter hängen. Weil die angestrichenen Passagen aus dem Buch offenbar zu explizit waren, Passagen wie:
"Jetzt gab er Sexgeräusche von sich, stöhnte und keuchte wie ein alberner Teenager. Das war so blöd, so albern, dass ich mich regelrecht schämte, so als würden sämtliche Menschen in meinem Leben gerade zusehen und können es kaum glauben, dass ich Zeit mit diesem Menschen verbrachte." Oder: "Wenn er nicht bei mir war, genoss ich mein wunderschönes Zimmer, schlief lange aus, salbte mich, hatte Orgasmen, hörte Musik und aß nur, worauf ich Lust hatte: Hot Dogs, Pudding, Orangeneis am Stiel und Dinge mit Erdnussbutter darauf." Und: "Ich schuldete ihm inzwischen mehrere Wochen Sex."
Das sind aber nicht mal die explizitesten Passagen in diesem Roman, der von einer Frau handelt, die nach ihrem eigenen Format im 21. Jahrhundert permanenter Selbstbefragung und Selbstverbesserung sucht - und der wie alle künstlerischen Arbeiten Miranda Julys auch das Dokument einer Suche nach dem eigenen Format ist. Seitenweise folgen Sexszenen auf Träume von Sexszenen, auf intime Schilderungen von Mutter-und-Kind-Momenten, von Mann-Frau-Momenten, auf blitzartige Gegenwartsanalysen der Pop- und Konsumkultur von heute: Fitnessstudios, Stars, vegane Cafés. Auto-Verleihstationen, Kalifornien. "Auf allen vieren" verlangt vierhundert Seiten lang Geistesgegenwart - und Geduld. Und Vertrauen in die Autorin, dass sie am Ende alles, was sie für ihre Geschichte aufgesammelt und in Zusammenhang gebracht hat, abrundet. Dass man sich permanent sehr gut unterhalten fühlt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass viel von dieser guten Unterhaltung auch Unterhaltung sein könnte.
Die intuitive, pointierte und emphatische Gegenwartsdurchdringung der Miranda July ist nicht so einfach auf einen Begriff zu bringen. July scheint selbst immer wieder mit großem Erstaunen auf ihre eigenen Sehnsüchte, Fetische, Begierden zu schauen, aber es ist dieses kindlich-warme Erstaunen über die eigene Seele, das es anderseits leicht macht, ihr in diese ihre Welt zu folgen. Es gibt ein Internet-Meme von einem Handtuchhalter, der mit seinen beiden aufgerichteten Haken aussieht wie ein Handtuchhalter - oder wie eine kampflustige Krake, die ihre Tentakelfäuste hebt. Kommt auf die Augen an. Miranda July würde immer die Krake sehen.
Weswegen es der Künstlerin vielleicht sogar gefiele, dass Zitate aus ihrem neuen Roman im Spamfilter gelandet sind, als sei er - ein queerer Porno? Davon erzählt er jedenfalls. Eine kalifornische Künstlerin, Anfang, Mitte vierzig, verheiratet, ein Kind, berühmt geworden mit einem spektakulären Werk, dessen Wesen nicht genauer definiert wird, dessen Erfolg aber auch schon etwas zurückliegt, hat einen Termin in New York. Sie entschließt sich dazu, mit dem Auto von einer Küste an die andere zu fahren. Zwei Wochen Zeit nimmt sie sich dafür. Aber sie kommt kaum eine halbe Stunde weit, bis nach Monrovia, da lernt sie an einer Tankstelle einen jüngeren Mann kennen, der ihre Windschutzscheibe putzt.
Also fährt sie nicht weiter. Nimmt ein Zimmer in einem Motel, dem "Excelsior", das mit einer doppelten Verneinung für sich wirbt: "No no vacancies". Warum sollte sie also nicht nicht weiterfahren? Oder, anders gefragt: "Wer weiß schon wirklich, warum jemand irgendetwas tut? Wer hat die Sterne erschaffen? Warum gibt es Leben auf der Erde?"
Bis Mitte Oktober zeigt die Osservatorio Fondazione Prada in Mailand noch eine große Ausstellung, "Miranda July: New Society", die ähnlichen Fragen nachgeht. Sie schöpft aus dem Archiv der Künstlerin, zeigt Videos, Kostüme, Installationen. Die "neue Gesellschaft" im Titel besteht erst einmal aus einer Person, Miranda July, und diese Person macht vor, wie wir die Möglichkeiten des Menschseins erweitern können, körperlich, intellektuell, immer spielerisch. Der neue Roman ist der jüngste in einer langen Reihe von Publikationen, auf Deutsch erschienen sind ihre Texte erstmals 2008, das war der Erzählungsband "Zehn Wahrheiten".
Miranda July ist im Februar fünfzig Jahre alt geworden, sie ist mit dem Filmemacher Mike Mills verheiratet, ihr gemeinsames Kind heißt Hopper, beiden dankt sie im Nachwort ihres neuen Romans - der also von einer Künstlerin in den Wechseljahren handelt, weswegen July, wie sie ebenso im Nachwort schildert, mit anderen Frauen über deren Erfahrungen gesprochen hat. Der Text, der dabei herausgekommen ist, erzählt aber noch so viel anderes mehr, dass man ihn auf die sehr allgemeine Formel bringen könnte, er handele von Veränderungen: künstlerischen, familiären, sozialen, sexuellen, intellektuellen, innenarchitektonischen.
Die Künstlerin auf ihrem abgebremsten Roadtrip bekommt das Zimmer 321 im Motel. Drei, zwei, eins - wie der Countdown für einen Start in ein anderes Leben. Oder in eine dumme Geschichte. Der psychologische Effekt dieses Herunterzählens, des "Ich zähle bis drei", die Kraft des magischen Denkens, das am Ende des Zählens auch ganz bestimmt was passiert - typisch für die Künstlerin Miranda July. Bis zu diesem Augenblick könnte, was da in ihrem Roman passiert, allerdings auch der Plot einer Geschichte von Colleen Hoover oder Nora Roberts sein: Leicht verlorene Frau auf der Suche nach mehr trifft den Typen dafür und bucht sich in einem Motel ein, bis was passiert oder nicht.
Aber dann passiert stattdessen so etwas sonderbar und wunderbar Unerwartetes, wie es vielleicht nur der Wahrnehmungsapparat einer Miranda July hervorbringen kann (oder der von Clemens J. Setz, verwandte Seele): Die Künstlerin engagiert eine Innenarchitektin, damit sie das Zimmer 321 umgestaltet. Für 20.000 Dollar. Den Leuten vom Motel kommt das offenbar normal vor, jedenfalls verhindern sie das Redesign nicht - vielleicht auch im Kalkül, dass ein Zimmer, von einer Prominenten umgestaltet, gut zu vermarkten sein könnte. Also wird aus dem Roman ein paar Seiten lang so etwas wie eine neue Folge der Makeover-Realityshow "Queer Eye". Nur dass hier kein heruntergerocktes Haus aufmöbliert und eine verlorene Seele mit dem richtigen Haarschnitt gerettet wird. Vielmehr beginnt jetzt eine Geschichte, in deren Verlauf sich die Verhältnisse um die Künstlerin herum langsam auflösen, um dann neu kombiniert zu werden.
Und so sehr die Künstlerin auch versucht, das selbst zu tun, die Dinge und sich selbst in den Griff zu kriegen, so sehr spürt sie, dass ihre eigene Einbildungskraft an die Grenzen des freien Willens der Menschen um sie herum stößt. Ihr Mann Harris ist ein Mensch mit eigenem Willen. Sam, das gemeinsame, nonbinäre Kind, durchgehend mit den geschlechtsneutralen Pronomen im Text beschrieben, ist ein Mensch mit eigenem Willen. Und auch Davey, der Mann von der Tankstelle in Monrovia, ist ein Mensch mit eigenem Willen und eine große Erkenntnis für die Künstlerin, in welch verheerendem Ausmaß sie ihn unterschätzt hat. Auch Davey hat seine ganz eigenen Handtuchhalterkraken.
Man könnte dieses Zimmer 321 von Monrovia für eine Metapher auf den Menschen, seine kurze Existenz und Sinnstiftungssuche in der endlosen Sinnlosigkeit des Universums halten. Das wäre vielleicht etwas kitschig - vielleicht steckt diese Idee trotzdem in Miranda Julys Geschichte. Eine existenzielle Geschichte. So wie "Auf allen vieren" auch ein Selbsthilfebuch für Frauen in den Wechseljahren ist und ein queerer Porno sexueller Selbstbestimmung vor kalifornisch coolen Kulissen.
"Ich bin eine Frau", sagt die Künstlerin früh im Roman, "die in jungen Jahren auf mehreren Gebieten erfolgreich war und sehr beständig weitergearbeitet hat, die ihre zentralen Themen stets in einem ekstatischen, losgelösten Dämmerzustand umkreist, in einer Art dissoziativer Fugue, getragen von dem Wissen, dass es keinen anderen Weg gibt und ihr ganzes Leben in diesem einen Gespräch mit Gott besteht. Vielleicht ist Gott aber auch das falsche Wort. Mit dem Universum. Dem Netz unter allem. Ich arbeite in unserer umgebauten Garage. Ein Bein meines Schreibtischs ist kürzer als die anderen, und ich nehme mir seit fünfzehn Jahren praktisch täglich vor, irgendetwas darunterzuklemmen, aber meine Arbeit lässt es an keinem Tag zu, so dringlich ist sie - ich bin permanent an einem entscheidenden Wendepunkt; alles steht ständig kurz vor der Offenbarung. Um fünf Uhr nachmittags muss ich mich ganz bewusst runterholen, bevor ich wieder ins Haus gehe, als müsste sich Buzz Aldrin darauf einstellen, direkt nach seiner Rückkehr vom Mond den Geschirrspüler auszuräumen. Sprich nicht über den Mond, sage ich mir. Frag die anderen, wie ihr Tag war."
Der Humanismus der Miranda July liegt in der Erkenntnis, dass wir nicht die Künstlerin oder der Künstler sind, sondern der Schreibtisch. Und dass es okay ist, wenn was wackelt. Es macht uns zu Menschen.
Miranda July: "Auf allen vieren". Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Jacobs. Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten
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