Besprechung vom 07.11.2024
Am Rande der Gesellschaft durch den Alltag kämpfen
Monika Helfers 365 Erzählungen umspannender Reigen von Erinnerungsgeschichten
"Ich bin eine, die unheimlich karg schreibt, immer nahe am Skelett", bekennt die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer, aber wie sie schreibt, da ist alles Fleisch und Blut. Ihre jüngste Veröffentlichung ist karg und üppig zugleich. In 365 Geschichten, kaum eine länger als anderthalb Seiten, insgesamt mehr als siebenhundert Seiten stark, breitet sie ein vielstimmiges Panorama menschlicher Existenz aus: Glück und Leid, Leben und Tod, Kindheit und Alter, Nähe und Kälte, Vergangenheit und Gegenwart. "Diskret ist Schreiben nie", so Monika Helfer, sie schaut hin, beobachtet, spinnt sich in das Leben fremder Menschen ein, vergräbt sich in den eigenen Familiengeschichten und versteht sich als "Bildermalerin" mit dünnem, feinem Strich.
Geboren 1947 im Vorarlberg, verlor sie ihre Mutter, als sie elf Jahre alt war, die Kinder wurden auf die Verwandtschaft aufgeteilt, Monika Helfer wuchs in beengten, ärmlichen Verhältnissen bei einer Tante auf. Mit zwölf begann sie mit dem Schreiben, um den Schock zu verkraften und einen Ort zu finden, der ihr Halt gab. Monika Helfer hat viel geschrieben, aber ihren großen literarischen Durchbruch erlebte sie erst mit über siebzig: 2020 erschien ihr Roman "Die Bagage", und diese Geschichte ihrer Großeltern als Außenseiterin auf dem Dorf wurde zum Bestseller. Es folgte 2021 der Roman "Vati" über einen vom Krieg versehrten und gebrochenen Mann, der Bücher mehr als alles andere liebte, und 2022 vollendete sie die Familientrilogie mit der Verarbeitung des Lebens ihres Bruders, der mit dreißig Jahren den Freitod wählte, in dem Roman "Löwenherz". Plötzlich war aus der bislang nur lokal bekannten Autorin eine Schriftstellerin geworden, die ins literarische Rampenlicht trat. Stand sie vorher mehr im Schatten ihres erfolgreicheren Mannes, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, der durch seine epische Fabulierkraft das Publikum fasziniert, so hat sie sich mit leiser, beharrlicher und ungebrochen poetischer Einbildungskraft einen Platz in der ersten Reihe erobert, obwohl ihr "Eroberung" gar nicht liegt. Es gibt kein Konkurrenzverhalten zwischen dem schreibenden Paar; sie arbeiten und leben symbiotisch miteinander, jeder auf seine Art, wie in einer "Manufaktur", wie beide gerne betonen.
Die 365 Geschichten darüber, "wie die Welt weiterging", hat Monika Helfer ihrem Mann gewidmet. Man könnte glauben, es wäre für jeden Tag des Jahres eine Geschichte, aber die Erzählungen sind kein Kalendarium. Jede Geschichte steht für sich selbst, entwirft einen eigenen, immer sehr persönlichen Kosmos. Sie sind Ergebnis vieler Jahre des kontinuierlichen Schreibens. In einer Nachbemerkung teilt die Autorin mit, dass ein Großteil ihrer Arbeiten in den letzten Jahren in den "Vorarlberger Nachrichten" veröffentlicht wurde. Die Schriftstellerin stürzt ihr Lesepublikum in einen großen Topf explosiver Lebenssituationen, deren Ende oft fragwürdig ausgeht, offenbleibt. "Ich lasse meinen Figuren immer ein Geheimnis."
Die Perspektive des Erzählens ist vielfältig, mal aus der Ich-Schau, mal im Ton eines Märchens mit "Es war einmal", oft werden Gespräche wiedergegeben, manche Geschichten wirken wie das Aufschnappen einer Zeitungsnotiz, Zugreisen mit Fremden sind ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Ob Frau, ob Mann, ob Kinder, alle kommen in ihrer Sprache und mit ihren Empfindungen zu Wort. Die Geschichten spielen nicht in der großen Welt, es sind Einblicke in die verborgenen Lebenswelten einfacher Menschen, die oft am Rande der Gesellschaft stehen und sich mühsam und verschroben durch den Alltag kämpfen.
Die Titel verraten meist nichts über den Inhalt: "Haare schneiden", "Wer weiß, wer ich bin?", "Kenne ich Sie?", "Ich höre sie lachen", "Ein wenig, ein wenig", "Das schlechte Kind", "Das gute Kind", "Mein Gewissen", "Jetzt wird gestorben", "Keine Skrupel", "Eigentlich ganz einfach, alles", "Das kleine Glück des Alltags" oder Skizzen über die "Sieben Todsünden" - Eitelkeit, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Eifersucht, Faulheit -, und ganz ohne Übergang folgt auf die Todsünden die Erzählung "Die Suppe wird kalt".
Darin liegt der große Reiz von Helfers Erzählkunst: Nichts ist vorhersehbar, es gibt keine innere Logik, das Moment der Überraschung herrscht vor, ob sich da nun ein dicker fauler Mann eine Asiatin kauft, um es bequem zu haben, ob eine Marokkanerin vom Land ihre erste menschliche Begegnung durch eine Diplomatenfamilie erfährt, ob eine Mutter ihre Zwillinge zu Hause verhungern lässt, während sie mit ihrem Lover das Weite sucht, ob eine Vierundneunzigjährige im Altersheim ihre fünf Ehemänner regelmäßig antanzen lässt oder sich ein wohlsituierter Mann eine etwas liederliche Frau angelt, die dann doch nicht zu ihm passt und ihn hereinlegt - Monika Helfer kennt keine Tabus, sie zerbröselt mit Mut und Übermut die Conditio humana.
Die Phantasie dieser Autorin ist grenzenlos. Sie kann einen düsteren und schaurigen Ton anschlagen, sie kann mit Witz und Humor eine skurrile Episode erzählen, sie kann zarte Töne anschlagen, manchmal gefühlvoll, manchmal brutal die Wirklichkeit in Szene setzen. Und alles in einem lakonischen Stil, der sich kein Wort zu viel erlaubt und dem Leser viel Freiheit für die eigene Imagination lässt. Ein eigenes Timbre tragen die Geschichten der Erinnerung an Helfers eigene Familie, vor allem derer an ihre bittere Kindheit, an die Sehnsucht, die sie beim Gedenken an den Vater überkommt und vor allem an den Schmerz um die eigene Tochter Paula, die mit einundzwanzig Jahren 2003 auf einer Wanderung tödlich verunglückt ist. Autofiktionale Geschichten mischen sich harmonisch oder wie ein jäher Aufschrei in den Reigen der 365 Pasticcios, die sich wie große und kleine Perlen in dieser bewegenden Sammlung von Alltags- und Seelenbeobachtungen aneinanderreihen. LERKE VON SAALFELD
Monika Helfer: "Wie die Welt weiterging". Geschichten für jeden Tag.
Hanser Verlag, München 2024.
768 S., geb.
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