Besprechung vom 09.07.2020
Aus Sicht der Frauen
Monique Truong über Lafcadio Hearns Leben
Was eigentlich kennen wir, wenn wir meinen, einen Menschen zu kennen? Und woran genau erkennen wir ihn wieder, wenn wir ihn woanders wiedersehen? Kann es sein, dass wir da stets nur unserer eigenen Geschichte neu begegnen und sie forterzählen wollen, um den anderen darin festzuhalten, während er in vielen weiteren Geschichten, von denen wir nichts ahnen, eine Rolle, die wir niemals kennenlernen, spielt? Und was für Geschichten erzählt er eigentlich von uns? Solchen Fragen - Grundfragen der gesellschaftlichen Existenz wie der literarischen Erfindungslust - geht Monique Truong in ihrem neuen Roman nach.
Da ist zum Beispiel Alethea, einst schwarze Sklavin aus dem alten Süden, die nach der Befreiung in einer Pension in Cincinnati als Küchenhilfe ihr Auskommen gefunden hat. Spät im Leben sucht sie ein gewisser Mr Watkin auf und erzählt ihr Dinge über jenen gutaussehenden jungen Fremden aus Europa, der erst Pensionsgast war, bald ihr Liebhaber und dann sogar ihr Ehegatte wurde, bevor sich seine Spur in New Orleans verloren hat - Dinge, von denen Alethea gar nichts ahnte. Aber sprechen sie vom selben Mann? Nicht mal der Name stimmt hier überein. Mr Watkin nennt ihn Lafcadio, Alethea kennt ihn nur als Pat: "Pat und Lafcadio waren Zwillinge, die gleich aussahen, aber unterschiedliche Geschichten erzählten, unterschiedliche Wörter benutzten, unterschiedliches Essen aßen, unterschiedliche Straßen kannten, jeweils andere Kameraden fanden und die Lügen vergaßen, die sie sich erzählten." Solche Lügen, mit denen wir uns in der Welt einrichten, nennt man auch Literatur. Und die Zwillingsexistenz, die hier zutage tritt, verweist auf den Umstand, dass unser soziales Gesicht das ist, was die anderen von uns sehen: Wir sind, als wer wir wirken.
Das gestaltet und erkundet Truong an einer schillernden historischen Figur. Patricio Lafcadio Hearn (1850 bis 1904) war Reporter, Übersetzer, Kochbuchautor, Erzähler, Geisterbeschwörer, Reisender und Zwischengänger der Kulturen - ein Welten-, Wörter- und Geschichtensammler, der auf vier Kontinenten unterwegs und vielleicht nirgends außer in seiner Forscherlust und Phantasie zu Hause war. Geboren auf der ionischen Insel Lefkas (an die sein zweiter Vorname, unter dem er bekanntgeworden ist, erinnert), gelangte er als Kleinkind nach Dublin, wo seine Mutter die Familie verließ, wurde nach dem Tod des Vaters auf ein englisches Internat geschickt, wo er ein Auge verlor, ging mit neunzehn nach Amerika. Dann zog er weiter auf die französischen Antillen und Britisch-Guayana. Mit vierzig brach er abermals auf in die Fremde und ließ sich als Sprachlehrer in Japan nieder, wo er bald wieder heiratete, eine zweite Familie gründete, einen japanischen Namen annahm und für den Rest seines nicht sehr langen Lebens blieb. Sein Ruhm, der sich in jenen Jahren einzustellen begann, gründet auf Erzählungen aus der japanischen und ostasiatischen Kultur.
Vor drei Jahren hat Monique Truong einen schönen kleinen Band mit einer Auswahl von Hearns Reportagen herausgegeben. Jetzt nähert sie sich seiner Person aus Sicht von drei bemerkenswerten Frauen, die rückschauend von ihm berichten: seiner Mutter sowie der beiden Ehefrauen. Zu Wort kommt außerdem Hearns erste Biographin, deren Studie kurz nach seinem Tod erschien und im Roman ausführlich zitiert wird. Alle diese Frauen erzählen von dem Mann, den sie zu verschiedenen Zeiten und an ganz verschiedenen Orten seines wandlungsreichen Lebens kannten oder jedenfalls zu kennen glaubten. Und alle erzählen sie zugleich viel von sich selbst.
Historische Romane leben von der Erfahrbarkeit und Atmosphäre jener fremden Welt, in die sie uns entführen. Hier will uns die Autorin allerdings auf knappem Raum gleich drei davon bescheren: Europa, Amerika und Japan. Das ist des Guten zu viel. Der Erzählstrom ihrer Erzählerinnen, die sich alle auch noch an ein Gegenüber richten, schweift umher, mäandert und verteilt sich oft auf Seitenarme. So fällt es schwer, sich auf die großen Fragen, die der Roman aufwirft, einzulassen.
Doch vielleicht sind auch Romane Zwillingsexistenzen, in denen wir beim Wiederlesen noch ganz anderes entdecken. Der Versuch könnte hier lohnen. Bis dahin aber lesen wir endlich einmal Hearn.
TOBIAS DÖRING
Monique Truong: "Sweetest Fruits". Roman.
Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C. H. Beck, München 2020. 348 S., geb.
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