Inhaltsverzeichnis
Köln
Erster Tag: Schwerin
Zweiter Tag: Von Berlin nach Breslau
Dritter Tag: Auschwitz
Vierter Tag: Krakau
Fünft er Tag: Von Krakau nach Warschau
Sechster Tag: Warschau
Siebter Tag: Warschau
Achter Tag: Von Warschau nach Masuren
Neunter Tag: Kaunas
Zehnter Tag: Vilnius und sein Umland
Elfter Tag: Über Paneriai nach Minsk
Zwölft er Tag: Minsk und Chatyn
Dreizehnter Tag: In die Sperrzone von Tschernobyl
Vierzehnter Tag: Kurapaty und Minsk
Fünfzehnter Tag: In die Sperrzone hinter Krasnapolle
Sechzehnter Tag: Von Minsk nach Kiew
Siebzehnter Tag: Kiew
Achtzehnter Tag: Von Kiew nach Dnipro
Neunzehnter Tag: An die Front im Donbass
Zwanzigster Tag: Über Mariupol ans Schwarze Meer
Einundzwanzigster Tag: Am Schwarzen Meer entlang nach Odessa
Zweiundzwanzigster Tag: Odessa
Dreiundzwanzigster Tag: Abflug aus Odessa
Vierundzwanzigster Tag: Über Moskau nach Simferopol
Fünfundzwanzigster Tag: Über Bachtschyssarai nach Sewastopol
Sechsundzwanzigster Tag: Entlang der Krimküste
Siebenundzwanzigster Tag: Von der Krim aufs russische Festland
Achtundzwanzigster Tag: Nach Krasnodar
Neunundzwanzigster Tag: Von Krasnodar nach Grosny
Dreißigster Tag: Grosny
Einunddreißigster Tag: In den tschetschenischen Bergen
Zweiunddreißigster Tag: Von Grosny nach Tiflis
Dreiunddreißigster Tag: Tiflis
Vierunddreißigster Tag: Tiflis
Fünfunddreißigster Tag: Nach Gori und an die georgisch-ossetische Waffenstillstandslinie
Sechsunddreißigster Tag: Von Tiflis nach Kachetien
Siebenunddreißigster Tag: Von Kachetien nach Aserbaidschan
Achtunddreißigster Tag: Entlang der aserisch-armenischen Waffenstillstandslinie 251
Neununddreißigster Tag: Mit dem Nachtzug nach Baku
Vierzigster Tag: Baku
Einundvierzigster Tag: Baku und Qubustan
Zweiundvierzigster Tag: Abflug aus Baku
Dreiundvierzigster Tag: Eriwan
Vierundvierzigster Tag: Eriwan
Fünfundvierzigster Tag: Zum Sewansee und weiter nach Bergkarabach
Sechsundvierzigster Tag: Durch Bergkarabach
Siebenundvierzigster Tag: An die armenisch-aserische Waffenstillstandslinie und weiter nach Iran
Achtundvierzigster Tag: Über Dscholfa nach Täbris
Neunundvierzigster Tag: Über Ahmadabad zur Festung Alamut
Fünfzigster Tag: Ans Kaspische Meer und weiter nach Teheran
Einundfünfzigster Tag: Teheran
Zweiundfünfzigster Tag: Teheran
Dreiundfünfzigster Tag: Teheran
Vierundfünfzigster Tag: Abflug aus Teheran
Mit der Familie in Isfahan
Aufbruch
"Vielleicht sind seine Reportagen das Hauptwerk dieses öffentlichen Intellektuellen. Sie ergeben eine Kulturgeschichte des Unmittelbaren."
Philipp Holstein, Saarbrücker Zeitung, 20. März 2018
"Der Reporter Navid Kermani ist fasziniert von der Fremde. Zu seiner Neugier auch auf unbequeme Wahrheiten kommt eine große Fähigkeit zur Einfühlung: Der Versuch, schreibend zu verstehen, was Menschen trennt und was sie verbindet."
Andreas Lueg, ARD ttt, 18. März 2018
"Kermanis Blick für sprechende Details, sein ausgeprägtes Sensorium für Stimmungen und Atmosphären bewähren sich auch in der für ihn fremden Region."
Holger Heimann, SR2, 31. Januar 2018
"Kermani gelingt dabei, ein flammendes Plädoyer für Europa, das seinen Platz im überschaubaren Kreis der einflussreichen Intellektuellen Deutschlands festigt."
Rainer Hermann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Februar 2018
"Nahezu auf jeder Seite gibt es für den Leser etwas zu bedenken, zu lernen, zu staunen."
Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 10. Februar 2018
"Während viele der Menschen, von denen die Reportagen erzählen, nach Europa schauen, blickt der Westen nicht zurück. Kermani hingegen tut es neugierig und vorurteilsfrei."
Holger Heimann, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 28. Januar 2018
"Ein Buch so prall und bewegend, dass es gut ist, sich dafür 54 Tage zu nehmen, also Tag für Tag wieder in eine neue Welt einzutauchen."
Katja Weise, NRD.de, 26. Januar 2018
"Ein überwältigendes Reisebuch.
Bayern2, Kirsten Böttcher
Besprechung vom 13.02.2018
Die Saat für neue Konflikte ist ausgebracht
Ein Plädoyer für Europa im Angesicht der blutigen Verwüstungen seiner Geschichte: Navid Kermani berichtet von einer Reise, die ihn von Köln bis nach Isfahan führte.
Die Geschichte bestehe seit Kain und Abel aus Krieg, Massakern und Vertreibungen, schreibt Navid Kermani resigniert. So erblickt er entlang der Autobahnen und Landstraßen in Weißrussland und der Ukraine einen Friedhof nach dem anderen, und wo es kein Dorf mehr gibt, steht ein einzelnes Denkmal ohne einen Friedhof auf dem Feld. "Bloodlands" hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder das von Krieg gezeichnete Gebiet zwischen Polen und der Ukraine genannt. Von 1930 bis 1945 wurden dort vierzehn Millionen Zivilisten Opfer der Sowjets und der Nationalsozialisten.
In Osteuropa ist die Geschichte mit ihren Kriegen und Katastrophen allgegenwärtig. Aber auch in der Gegenwart könne man im Kaukasus, so der Autor, in nur zwei Stunden durch drei verschiedene Kriege fahren - auf einer Fläche, die kaum größer ist als Deutschland, leben mehr als fünfzig Völker mit eigenen Sprachen. Fassungslos erlebt der Autor in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnyi, wie das Nationalmuseum nicht an die beiden Kriege mit Russland erinnert, obwohl durch diese jeder vierte Tschetschene getötet und mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben wurde.
Protzige moderne Phantasiegebäude, die in den letzten Jahren hochgezogen wurden, verdrängen das Elend, mit dem Grosnyi nach den beiden Russland-Kriegen als die am meisten zerstörte Stadt der Welt bekannt wurde. Weiter südlich im Kaukasus schweigen die Waffen noch heute nicht. In Göygöl an der Waffenstillstandslinie zwischen Aserbaidschan und Armenien lässt ihn eine alte Frau wissen, es habe doch mit ihren armenischen Nachbarn keine Probleme gegeben: "Das kam alles über uns wie eine Naturkatastrophe." Dabei sind Kriege und Vertreibungen allein von Menschen gemacht.
Der Autor setzt diesen Abgründen das Europa von heute als Hoffnung gegenüber. Kermani gelingt dabei, ein flammendes Plädoyer für Europa, das seinen Platz im überschaubaren Kreis der einflussreichen Intellektuellen Deutschlands festigt. Bei ihm steht nicht die bekannte Erzählung im Vordergrund, dass es sieben Jahrzehnte keinen Krieg gegeben habe, auch nicht die Begehrlichkeiten auf die Brüsseler Fleischtöpfe. Europa bedeutet für ihn vielmehr, dass das friedliche Nebeneinander von Unterschieden gelingt, dass Vielfalt ausgehalten werden kann. Immer wieder hört er auf seiner Reise, wie die Völker, die sich gegen Russland behaupten wollen, ihre Hoffnung auf Europa richten.
Eindrucksvoller erster Höhepunkt des Reiseberichts ist sein Besuch in Auschwitz. Dort musste er sich für eine Sprache entscheiden, und so klebte an seiner Brust der Schriftzug "deutsch". In diesem Augenblick habe er sich den Tätern zugehörig gefühlt und nicht den Opfern, schreibt er. Nicht durch die Herkunft gehöre er dazu, sondern durch die Sprache und damit die Kultur. Da wird ihm bewusst, dass nicht die Menschenrechte und der Säkularismus das Spezifische an der deutschen Leitkultur sind. Diese Werte seien europäisch, wenn nicht universal. Für spezifisch deutsch hält er vielmehr "das Bewusstsein seiner Schuld, das Deutschland nach und nach gelernt und auch rituell eingeübt hat".
Wie brutal und unwiderruflich die Auslöschung ist, die von 1930 bis 1950 gewütet und eine breite Schneise hinterlassen hat, wird an Kermanis Stationen in Litauen deutlich. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg stellten Juden ein Drittel der litauischen Bevölkerung. Fünfundneunzig Prozent von ihnen wurden im Holocaust getötet. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in Litauen noch polnische, litauische, russische, jiddische und weißrussische Zeitungen. Diese gelebte Vielfalt ist Geschichte. Kermani trifft aber noch auf Einzelne, die Jiddisch sprechen, und in Odessa, einer einst von Juden geprägten kosmopolitischen Stadt, beobachtet er, wie jüdisches Leben wieder aufblüht: "Vielleicht gibt es keinen besseren Maßstab, um zu erkennen, ob Europa doch noch gelingt."
Solche Hoffnungsschimmer sind selten in Kermanis Buch. Der Schatten der Geschichte ist zu lang, entlang seiner Route liegen zu viele Vernichtungslager, auch weniger bekannte. Um nur einige zu nennen: In Paneriai brachten die SS und litauische Freiwillige Juden und russische Kriegsgefangene um, Kurapaty war ein stalinistisches Vernichtungslager, in Trostenez ermordeten die Nazis sechzigtausend Juden. Und in der Gegenwart ist das Reaktorunglück von Tschernobyl an der ukrainischen Grenze zu Weißrussland eine weitere von Menschenhand gemachte Katastrophe. Heute lebt jeder fünfte Weißrusse auf kontaminiertem Grund.
In jeder Stadt sucht Kermani die Begegnung mit einheimischen Schriftstellern, Historikern und Philosophen, um die Leser mit der Literatur der Länder vertraut zu machen. In Minsk trifft er den Philosophen Valentin Akudowitsch, dem er sagt: "So viele Menschen wurden ermordet, überall, so viele Kulturen vernichtet, die ganze gewachsene Vielfalt, damit sich Nationen herausbilden konnten, und dann haben diese Nationen sich auch noch gegenseitig mit Kriegen überzogen, weil sie sich entweder überlegen oder bedroht fühlten - oder beides zugleich." Kühl antwortet ihm der Philosoph: "Der Nationalstaat ist die angemessenste Organisationsform der Gesellschaften." Auch Weißrussland brauche eine eigene Identität, um sich gegen Russland zu behaupten, denn "Russland frisst uns auf."
In der Gegenwart Vielfalt zu erhalten ist Kermanis großes Anliegen. Da lässt er nicht gelten, dass in Polen Vielfalt weniger als Chance, sondern als Gefahr gesehen wird. Als den Beginn des Zeitalters der Völkermorde setzt er den 24. April 1915 an, als die Jungtürken den armenischen Genozid einleiteten. Später hätten in der Ukraine zwei Jahrzehnte genügt, um ein jahrhundertealtes Völker- und Sprachgemisch sowie ein Nebeneinander von hundert Nationalitäten zu zerstören.
Kermani ist Realist genug und akzeptiert, dass sich Geschichte nicht umkehren lässt: "Am Ende hat jedes Volk, sofern es nicht ausgelöscht worden ist, Ansprüche, Vorwürfe, Traditionen, Lieder oder schlicht ein Stück Boden von seinen Vorfahren geerbt, auf das andere ebenfalls ererbtes Anrecht haben, so dass die Saat für neue Konflikte angelegt ist."
Dieser Saat geht er auf der Krim nach, wo er im neunzehnten Jahrhundert den ersten Krieg der Moderne gegen die Zivilbevölkerung verortet. Dabei ist die Krim doch Urgrund Europas, denn die griechische Antike dehnte sich weit nach Asien aus und nicht so sehr nach Westen.
Gegenüber diesem intensiven Spannungsbogen fällt der letzte Teil des Reiseberichts ab, bei dem Kermani von Armenien aus Iran besucht, das Land, aus dem seine Eltern 1959 nach Deutschland migriert sind. Er zeichnet das Bild einer - trotz Unterdrückung - kraftvollen Kunstszene und eines unfähigen Regimes: "Aber sie können nicht regieren, sie lernen's einfach nicht." In Isfahan, woher seine Familie stammt, fließen dann doch unter der Kuppel der Lotfollah-Moschee und ihrer raffinierten Ornamentik Ost und West zusammen. In diese Kuppel zu blicken, das sei wie Bach zu hören.
Den Abschluss seiner Reise empfindet er als traurig. Ausgetrocknet ist der Fluss, über den eine berühmte Brücke führt, all die schönen Orte aus seinen Kindheitserinnerungen sind wie von einem Dämon weggezaubert. Früher wurde getötet. Heute wird noch immer getötet. Doch nun gerät auch das Neue hässlich, was der Welt ihre Schönheit raubt. So schließt sich der Bogen doch noch.
RAINER HERMANN
Navid Kermani: "Entlang den Gräben". Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 442 S., geb., 24
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