Besprechung vom 16.03.2021
Aus allem lässt sich etwas machen
Neil Shubin zeigt, wie das evolutionäre Prinzip des Funktionswandels Schritt für Schritt an Erklärungskraft gewann
Die Geschichte des Lebens auf der Erde kann als eine Abfolge von Übergängen zu immer komplexeren Organisationsformen erzählt werden - von nackten, sich vervielfältigenden Molekülen zu einzelligen Lebewesen, zum Zusammenschluss undifferenzierter Zellen, zur Entstehung der sexuellen Fortpflanzung, zum Erscheinen vielzelliger Tiere und Pflanzen und schließlich zur Entwicklung von Gesellschaften. Innerhalb jeder dieser Organisationsebenen gab es im Verlauf der Evolution eine Reihe weiterer Übergänge, die nicht zu völlig neuen Organisationsformen, aber zu fundamental neuen Lebensweisen führten; bei Wirbeltieren beispielsweise zum Übergang vom Leben im Wasser zum Leben an der Luft oder zur Entwicklung des Fliegens.
Solche Übergänge benötigen eine koordinierte Anpassung vieler verschiedener Körperteile und sind damit seit Darwins Zeiten eine ernste Herausforderung für die Evolutionsbiologie. Wie soll man sich die Entstehung von Amphibien aus fischähnlichen Vorläufern vorstellen? Flossen müssen zu Beinen werden, und die Atmung muss sich umstellen, so dass nicht mehr Kiemen Sauerstoff aus Wasser extrahieren, sondern Lungen Sauerstoff aus der Luft gewinnen. Und diese Änderungen sind nur sinnvoll, wenn sie gleichzeitig geschehen. Wie kann natürliche Auslese, die auf der zufälligen Erzeugung von ungerichteter Variation beruht, solche koordinierten Änderungen hervorbringen?
Der britische Zoologe St. George Jackson Mivart (1827-1900), der sich von einem glühenden Anhänger der Theorie der natürlichen Auslese zu einem ihrer schärfsten Kritiker entwickelte, schrieb, dass "natürliche Auslese ungenügend ist, die Anfangsstadien nützlicher Strukturen zu erklären". Darwin deutete in der sechsten Auflage der "Origin of Species" an, dass der Funktionswandel bestehender Strukturen eine Antwort auf diesen Einwand ist. Der an der Universität Chicago lehrende Paläontologe Neil Shubin widmet nun sein neues Buch Antworten der modernen Wissenschaft auf diese Fragen.
Shubin beginnt sein Buch mit einem Kapitel über Mivart und dessen Beobachtung, dass wichtige Übergänge in der Evolution mit der Veränderung ganzer Kombinationen von Eigenschaften quer durch den Körper einhergehen müssen. Am Beispiel der Schwimmblase zeigt Shubin dann in einem historischen Exkurs, auf welche Weise vergleichende Anatomie, Beobachtungen an lebenden Tieren und Embryologie erste Antworten auf die Frage bieten konnten, wie es Wasserbewohnern gelang, Land zu besiedeln. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire beobachte 1798 bei der Präparation von Flösselhechten, dass die Speiseröhre durch einen kleinen Gang mit der bei allen Knochenfischen vorhandenen Schwimmblase verbunden ist, die zudem auch voller Blutgefäße war. Dieses Organ dient Fischen normalerweise dazu, ihr spezifisches Gewicht dem des umgebenden Wassers anzugleichen, so dass sie schweben können; aber die Flösselhechte atmeten nicht nur mit ihren Kiemen, sondern sie konnten auch - was Saint-Hilaire an lebenden Fischen beobachtete - Luft schlucken und mit der Schwimmblase Sauerstoff aufnehmen. Embryologen erkannten, dass Lungen und Schwimmblasen in Verlauf der Individualentwicklung auf die gleiche Weise, als Abschnürungen vom Darmrohr, entstehen. Und genetische Analysen konnten zeigen, dass bei Fischen die gleichen Gene für die Ausbildung der Schwimmblase sorgen, die beim Menschen die Lunge entstehen lassen.
Lungen existierten also schon, bevor die ersten Tiere das Land betraten. Die Eroberung des Landes brachte kein neues Organ hervor, sondern beruhte auf der Änderung der Funktion eines bestehenden Organs. Shubin erläutert dieses Prinzip dann auch am Beispiel der Evolution von Federn, welche die Herausbildung der fliegenden Fortbewegung erlaubten; er zeigt am Beispiel von Seescheidenlarven, wie Veränderungen im zeitlichen Ablauf der Embryonalentwicklung ein erster Schritt in der Entstehung von Lebewesen mit einem Rückgrat waren. Doch um ein vollständiges Bild der Geschichte des Lebens auf der Erde zu gewinnen, benötigt es mehr als Fossilien und Embryonen.
Neil Shubins eigene Forschung illustriert hervorragend den integrativen Charakter der modernen Paläontologie: Im Sommer graben er und sein Team nach Fossilien, und den Rest des Jahres wird neben Embryonen auch an DNA geforscht. In den folgenden Kapiteln zeigt er anschaulich, wie Erkenntnisse zur genetischen Steuerung der Embryonalentwicklung Einblicke in die Evolution von Bauplänen bei Wirbeltieren und Insekten erlaubt haben. Auch hier sieht Shubin das Prinzip "Neu nutzen, wieder nutzen, anders nutzen" am Werk. Die berühmten Hox-Gene steuern bei Mäusen nicht nur die Entwicklung von Wirbeln und Rippen entlang der Körperachse - ihre stammesgeschichtlich ursprüngliche Funktion bei Wirbeltieren -, sondern sie sind auch im Kopf, in den Gliedmaßen, dem Darm und den Genitalien aktiv. Die Evolution hat in Jahrmillionen immer neue Anwendungen für diese genetischen "Werkzeuge" gefunden.
Kombination, Übernahme und Zweckentfremdung sind nach Shubin die Prinzipien, welche die Vielfalt des Lebens ermöglicht haben. Sein Buch gibt einen hervorragenden Überblick, wie die Forschung - selten ohne Um- und Irrwege - in den vergangenen zweihundert Jahren das Wirken dieser Prinzipien erhellt hat.
THOMAS WEBER
Neil Shubin: "Die
Geschichte des Lebens". Vier Milliarden Jahre
Evolution entschlüsselt.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 352 S., geb.
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