Besprechung vom 05.09.2018
Lektionen des Scheiterns, aber auch der Freiheit
Wenn das Ich eines Gedichts uns bis auf die Knochen trifft: Niklas Bender wirbt für das Lesen als Lebenskunst
Ein strafloses Laster (vice impuni) nennt der französische Autor Valéry Larbaud in einem charmanten Text gleichen Titels das Lesen. Der Romanist Niklas Bender möchte in Zeiten von Smartphonesucht, verödenden Institutsbibliotheken und Literaturschwund in den Feuilletons für diese obsolete Neigung mit dem Lockruf "Lesen als Lebenskunst" werben und dabei eine Brücke zwischen Literaturwissenschaft und dem common reader schlagen. Ein sympathisches und keineswegs überflüssiges Projekt, denn die Kluft, die beide trennt, ist hierzulande tiefer als anderswo, und die ungezwungen noch immer Lesenden gelten als gefährdete Spezies, die der Ermunterung bedarf. Aber muss man sie wirklich als "Laienpublikum" ansprechen, so als ob Homer und Co. primär für Philologen gedichtet hätten?
Immerhin entführt uns der Autor gemeinverständlich und ohne Umschweife in die "angenehmste Schule der Welt"; denn es geht nach der unvermeidlichen Diagnose medialer Überflutung um Orientierung im Hinblick auf alternative Lebensentwürfe (Roman), um das Erleben intensiver Momente (Lyrik) und letztlich um die Erzählbarkeit des eigenen Lebens. Wer will, kann die akademischen Wurzeln der Diskussion im umfangreichen Anmerkungsteil erkunden.
Im Zentrum stehen zwei komparatistisch vernetzte Textreihen, mit deren Hilfe das Lebens- und Erlebensangebot beider Gattungen illustriert wird: Romane von Flaubert, Pirandello und Houellebecq, Gedichte von Baudelaire, Montale und Nico Bleutge. Dass die Letztplazierten dabei etwas im Schatten ihrer großen Vorgänger stehen, liegt in der Natur der Sache. Das Aparte dabei ist, dass es sich bei den Romanhelden um lauter Antihelden handelt, die unter den Optionen des Lebens die nicht zielführenden auswählen, soweit sie überhaupt Wahlmöglichkeiten haben.
Das gilt für den emotionalen Drifter Frédéric Moreau aus der "Éducation Sentimentale" ebenso wie für Pirandellos Mattia Pascal, dem der radikale Ausstieg aus seinem leeren Leben zur existentiellen Sackgasse wird, und erst recht für die Protagonisten der Suizid-Gesellschaft Houellebecqs, "einer optionsarmen Welt mit Tunnelblick auf die Katastrophe". Man sieht, Bender macht es sich und dem Leser nicht leicht bei seinem literarischen Werbefeldzug - die Parole heißt, für eine Textauswahl von der Frühmoderne an nicht ganz ungewöhnlich, "Desillusion".
Bender wählt bewusst einen Weg, "der steinig zu werden verspricht", um dem Leser gerade bei der Betrachtung des universellen Scheiterns zugleich mit der ästhetischen seine lebensweltliche Freiheit bewusst zu machen. Der Lesegenuss will verdient werden. Hier verspricht die Lyrik mit ihrer Kompaktheit und der Verheißung epiphanischer Erlebnismomente lustvolleren Erkenntnisgewinn.
Doch Baudelaires berühmtes Sonett "An eine Vorübergehende" handelt von flüchtiger Schönheit und versagter Liebe; der ewige Augenblick, den Montales "Sturm"-Gedicht beschwört, ist eine von Unwetter und Krieg grundierte Erinnerung an den Abschied der Geliebten, die mit dem letzten Halbvers "ins Dunkel eingeht"; und in Bleutges Poem "aufgeblitzt" ist es der "Schnee" als banale Wettervorhersage und Bildstörung des Fernsehers, der das Ich des Gedichts auf geheimnisvolle Weise "bis auf die Knochen" trifft. Der die Tiefenschichten des Bewusstseins erhellende "Blitz" macht das nachfolgende Dunkel in allen drei Beispielen nur umso bedrohlicher spürbar.
Der Dialog des Philologen mit dem unakademischen Leser hat durchaus seine Tücken. Mit so manchen Feststellungen ex cathedra verträgt sich der für die gute Sache werbende Ton der Ratgeberliteratur nur mäßig, und wer weiß, ob die hemdsärmelige Metaphorik vom Typ "Leere gähnt in der spirituellen Vorratskammer" oder "Lesen ist mehr als eine Krücke oder Zahnfüllung" ihre Zielgruppe erreicht? Allzu populärwissenschaftlich wirkt auch die resolute Art, in der die philosophischen Bedenken eines Heidegger, George Steiner oder Odo Marquardt vom Tisch gewischt werden.
Am Ende kommt noch einmal der Aspekt der Nützlichkeit von Literatur und seine Verbindung zur Lebenskunst etwas überraschend zur Sprache. Sie hilft uns nicht nur, einen guten Lebenslauf für Bewerbungszwecke zu verfassen, sondern auch das Narrativ des eigenen Lebens in Form zu bringen, also unser Leben optimal zu modellieren. Was hier fehlt, sagt Valéry Larbaud in dem eingangs erwähnten Essay so: "diese Freude, die sich nicht abstumpft mit den Jahren, dieses raffinierte und ungestrafte Laster, diese egoistische, heitere und dauerhafte Trunkenheit". Worte aus einer anderen Welt? WERNER VON KOPPENFELS
Niklas Bender: "Verpasste und erfasste Möglichkeiten". Lesen als Lebenskunst.
Schwabe Verlag, Basel 2018. 144 S., br.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Verpasste und erfasste Möglichkeiten" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.