Besprechung vom 10.10.2024
Gekappte Namen
Eine Familiensache: Olga Grjasnowas neuer Roman
In den letzten Jahren waren immer mehr selbstbewusste junge Stimmen postsowjetischer Migranten im Literaturbetrieb zu vernehmen. Die 39 Jahre alte jüdische Schriftstellerin Olga Grjasnowa zählt zu den Pionieren dieser Entwicklung. 2012 veröffentlichte die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig ihren ersten Roman, "Der Russe ist einer, der Birken liebt", jetzt folgte ihr inzwischen fünfter, "Juli, August, September".
Darin schildert die Autorin, die mittlerweile als Professorin Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien lehrt, Lous Sinnkrise. Lou heißt eigentlich Ludmilla, wurde wie die Autorin Grjasnowa in Aserbaidschan geboren und kam im Kindesalter als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Die Romanfigur arbeitet als promovierte Kunsthistorikerin in einer angesehenen Berliner Galerie und ist mit dem erfolgreichen Pianisten Sergej verheiratet. Nach außen hin scheint ihr Leben perfekt.
Doch nach einer Fehlgeburt beginnen Lous Zweifel. Sie hadert mit ihrer Mutterrolle, mit ihrer Identität als jüdische postsowjetische Einwanderin in Berlin und auch mit der distanzierten Beziehung zu ihrem Mann, der wegen seiner vielen Konzerttermine kaum Zeit für das Familienleben findet. Die Lage verschärft sich während eines humorvoll geschilderten Urlaubs in einer All-Inclusive-Ferienanlage auf Gran Canaria, wo Lou gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Tochter Rosa auf ihre erweiterte Familie aus Israel trifft. Daraufhin beschließt Lou in einem etwas schablonenhaften Finale, allein nach Israel zu fliegen, um die weißen Flecken ihrer Familiengeschichte aufzudecken.
Der Roman behandelt auf unterhaltsame Weise die Themen Identität und Familie, Mehrsprachigkeit und Migration. Die beiden Handlungsstränge, Lous persönliche Zweifel und ihre um den Holocaust kreisende Familiengeschichte, sind elegant verwoben. Aber es ist auch ein weiterer Identitätsroman, der in vielfach an Grjasnowas Debüt erinnert und deshalb nicht überrascht. Bei der Hauptfigur macht Grjasnowa offensichtlich Anleihen bei ihrer eigenen Biographie, so wie schon in "Der Russe ist einer, der Birken liebt".
Die Stärke des Textes liegt in den vielen kleinen, humoristischen Beobachtungen der Protagonistin. Etwa wenn sie bemerkt, dass das Tragen von Hausschuhen die einzige postsowjetische Angewohnheit sei, die ihr Mann in Deutschland beibehalten habe. Die Dialoge des Ehepaars, die um dessen Beziehung und die richtige Erziehung der Tochter Rosa kreisen, sind von zynischer Komik. Als sie sich fragen, welche jüdische Schule in Berlin die richtige für ihre Tochter sei, bemerkt Sergej, dass auf der einen zumindest keine Konvertiten aus SA-Familien seien. Aber in Deutschland werde Rosa ohnehin nur etwas über tote Juden erfahren. Manche Details der Geschichte wirken allerdings übertrieben und klischeehaft, etwa wenn Lou mit ihrer Tochter an der Hand auf dem Weg zum Taxi über eine rote Friedhofskerze neben einem Stolperstein stolpert. Auch irritiert insgesamt die Überheblichkeit der Protagonistin.
Über die Lebensrealität von postsowjetischen Migranten in Deutschland dürfte vielen deutschen Lesern nur wenig bekannt sein. Wer weiß schon, dass die Namen dieser Menschen nach der Einreise oft "verstümmelt" wurden, wie Lou sich ausdrückt? Oder dass Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge zwar zur selben Zeit und aus demselben geographischen Raum nach Deutschland kamen, aber nur Erstere wegen ihrer dokumentierten Zugehörigkeit zu den Deutschen Privilegien wie eine Anrechnung der Arbeitsjahre und somit eine höhere Rente genießen dürfen?
Es ist erfreulich, dass Grjasnowa diese und andere Probleme, die mit Migration und Identität zusammenhängen, mit ihren Büchern bekannter macht. Aber man fragt sich, ob die Form einer weiteren Identitätsgeschichte dieser Art glücklich gewählt ist. YELIZAVETA LANDENBERGER
Olga Grjasnowa: "Juli, August, September". Roman
Hanser Berlin, Berlin 2024. 224 S., geb.
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