Zwischen einem jüdischen Staat und einer liberalen Demokratie besteht ein eklatanter Widerspruch, sagt der israelische Philosoph Omri Boehm. Denn Jude ist, wer "jüdischen Blutes" ist. In einem großen Essay entwirft er die Vision eines ethnisch neutralen Staates, der seinen nationalistischen Gründungsmythos überwindet und so endlich eine Zukunft hat.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Israel dramatisch verändert: Während der religiöse Zionismus immer mehr Zuspruch erfährt, fehlt es der Linken an überzeugenden Ideen und Konzepten. Die Zwei-Staaten-Lösung gilt weithin als gescheitert. Angesichts dieses Desasters plädiert Omri Boehm dafür, Israels Staatlichkeit neu zu denken: Nur die Gleichberechtigung aller Bürger kann den Konflikt zwischen Juden und Arabern beenden. Aus dem jüdischen Staat und seinen besetzten Gebieten muss eine föderale, binationale Republik werden. Eine solche Politik ist nicht antizionistisch, sondern im Gegenteil: Sie legt den Grundstein für einen modernen und liberalen Zionismus.
Besprechung vom 15.12.2020
Grau ist alle Theorie
Eine Utopie über eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts
Kürzlich ist der frühere israelische Stadtplaner und spätere Friedensaktivist Meron Benvenisti gestorben. Als stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem hatte Benvenisti in den siebziger Jahren die Aufgabe, die geteilte Stadt zu "vereinen". Was das hieß, beschrieb er in seinem letzten Buch: "In dieser gespaltenen Stadt wurden die Bedürfnisse der ,Öffentlichkeit' nach Nationalität definiert und arabisches Land ,für die öffentliche Nutzung' exklusiv zugunsten der jüdischen Bevölkerung enteignet." Seine Jerusalemer Beobachtungen setzte Benvenisti im von Israel besetzten palästinensischen Westjordanland fort. Mit dem weiteren Ausbau israelischer Siedlungen auf diesem besetzten Gebiet hielt er es spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends für unmöglich, dass hier einmal die Staaten Israel und Palästina nebeneinander existieren könnten. Dazu sei der jüdische Siedlungsbau im für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Westjordanland zu weit fortgeschritten und nicht mehr umkehrbar.
Der für Benvenisti einzige Weg des Zusammenlebens war also schon damals nicht mehr eine Zweistaatenlösung, wie sie bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft hochgehalten wird. Sondern ein einziger, binationaler Staat mit gleichen Rechten für alle. Benvenisti warb für eine Machtteilung, in der die kulturelle Identität beider Völker, Palästinenser und jüdischer Israelis, gewahrt werde. Einen politischen oder gar verwaltungstechnischen Weg dahin vermochte Benvenisti allerdings nicht aufzuzeigen. Doch sein eigentlicher Befund hat an Substanz nicht verloren. Und wird auch in der liberalen jüdischen Diaspora wieder geteilt, wie zuletzt eine Reihe neuer Beiträge und Bücher zeigten.
Benvenisti nicht unähnlich, nur theoretischer, argumentiert etwa der in Israel geborene und in New York lehrende Philosoph Omri Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie", das zuerst in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ein Staat, der "ausdrücklich darauf besteht, die Souveränität der jüdischen Bevölkerung und nicht die Souveränität (aller) seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewähren", wie seit 2018 in einem Grundgesetz festgehalten ist, könne keine liberale Demokratie sein, schreibt Boehm. Zumal in jenen Gebieten, in denen Israelis wählen dürfen (was die Siedler im besetzten Westjordanland einschließt), Juden kaum noch fünfzig Prozent der Bevölkerung bildeten. Die angestrebte Demokratie sei auch im heutigen Kern-Israel nur durch die Herstellung einer ethnischen Bevölkerungsmehrheit zu erreichen gewesen: Und zwar durch die gewaltsame Vertreibung von siebenhunderttausend palästinensischen Arabern im Zuge der israelischen Staatsgründung - die "Nakba". Die Nakba sei keine Folge der jüdischen Selbstverteidigung, sondern habe bewusst die demographische Überlegenheit ermöglichen sollen, die zum Aufbau eines jüdischen Staates nötig war, argumentiert Boehm.
Dass auch liberale Größen wie der Schriftsteller David Grossman zwar stets die andauernde Besatzung der 1967 eroberten Gebiete und die völkerrechtswidrige Besiedlung angeprangert, die Nakba bis heute jedoch "totgeschwiegen" hätten, hält Boehm für fatal. Denn solch eine Haltung unterstütze Teilungspläne, "die ihre Glaubwürdigkeit seit den späten Neunzigerjahren verloren haben". Eben weil "uns die Zweistaatenlösung zwischen den Fingern zerrinnt, kehrt Israels verdrängte Umsiedlungspolitik mit Macht auf die Tagesordnung zurück". Dies ist für Boehm die Frage, vor der man lange schon auch im besetzten Westjordanland stehe: Wenn nicht über Alternativen zur Teilung nachgedacht werde, dann laufe alles auf eine neuerliche Vertreibung hinaus.
"Wir werden kein neues Rhodesien sein", zitiert Boehm den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin, der sich in einer Knesset-Rede schon Ende der siebziger Jahre von Apartheid-Zuständen distanzierte und sogar bereit war, Palästinensern in den besetzten Gebieten die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen - mit dem Recht auf Wahlen und Landerwerb. Dazu ist es freilich dann doch nie gekommen. Boehm greift auf zionistische Größen wie eben Begin zurück, um eine zentrale These seines Buches zu begründen: Seine Idee einer jüdisch-palästinensischen Föderation sei gar nicht weit hergeholt, zumal sie zeitweise bereits von Vordenkern wie Begin, dem Staatsgründer David Ben-Gurion oder dem Revisionisten Wladimir Jabotinsky hervorgebracht worden sei. Boehms Rückgriff auf die alten Meister mag nicht ganz überzeugen, da diese alle aus ihrer Zeit heraus und vor allem aus damals noch vollkommen anderen Machtverhältnissen heraus gehandelt haben. Damals kann es den Zionisten nicht darum gegangen sein, Souveränität aus der Position der Stärke abzugeben, sondern sie aus einer weit schwächeren Position heraus überhaupt erst einmal zu erlangen.
Heute dagegen scheint eine binationale Föderation wie ein gerechter Ausweg. Denn in dieser Utopie wäre der zionistische Grundgedanke, einen Zufluchtsort für verfolgte Juden in aller Welt zu bilden, ja weiter erfüllt, wie Boehm theoretisch darlegt. Selbstbestimmung müsse nicht Souveränität bedeuten. Doch bliebe das Konzept in der Praxis friedlich? Keine Garantie.
Eine von nicht mehr allzu vielen Gemeinsamkeiten linksliberaler und rechter Israelis ist die gemeinsame Abneigung gegen Vorschläge und Anweisungen, dass man zum Wohl der Allgemeinheit das eigene politische Dasein fundamental umzukrempeln und im eigenen Land ein neues System zu etablieren habe. Man lebe schließlich auch in Israel ein reales Leben, gehe morgens zur Arbeit, bringe abends die Kinder zu Bett, ist häufig zu hören. Die Bereitschaft, sich als Teil eines so wahrgenommenen Experiments zur Verfügung zu stellen, ist jedenfalls nicht eben ausgeprägt. Zumal man die möglichen gefährlichen Folgen in Israel (und Palästina) zuvörderst selbst zu tragen habe. Gewiss nicht an der amerikanischen Ostküste, von wo aus dann und wann derartige Vorschläge kommen.
In Israel oder in Palästina vertritt keine der wesentlichen Parteien die Idee einer binationalen Föderation. Weder die verbliebenen liberalen Parteien noch die palästinensische Behörde oder der von Boehm ob seines Eintretens für gleiche Rechte innerhalb Israels mit Recht gelobte Knesset-Abgeordnete Ahmad Tibi von der arabischen Vereinigten Liste. So ist es nicht Boehms Utopie, die dieses Buch lesenswert macht, sondern eher dessen Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen israelischen Politik. Und die ausdrücklich an das deutsche Publikum gerichteten Ausführungen, Israel "als normalen Gegenstand einer Debatte" zu behandeln.
JOCHEN STAHNKE
Omri Boehm: "Israel - Eine Utopie".
Propyläen Verlag, Berlin 2020. 256 S.
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