Zu Herzen gehende Familiengeschichte voller emotionaler Tiefe, für Kinder ab 9 Jahren
Bei Gurke daheim ist alles wie immer. Mama arbeitet fast rund um die Uhr an ihrer Doktorarbeit, sie weiß fast alles übers Weltall. Gurkes Papa verkauft sehr moderne Toaster und andere Elektrogeräte. Doch vor allem will er die Welt retten. Fast jeden Abend liegen Gurke und Papa in Gurkes Bett und blicken in Gurkes eigene Galaxie. Und dann wird alles anders. Gurkes Papa wird krank. Es ist, als würde er Stück für Stück verschwinden. So wie eines Tages die Welt vielleicht verschwinden wird. Sterne erlöschen andauernd. Aber es muss noch nicht jetzt sein. Es muss nicht mal bald sein. Es darf nicht bald sein. Und es darf auf keinen Fall Papa sein!
Besprechung vom 28.10.2024
Ein kleines Leben, großartig und schön
Oskar Kroons "Gurke und die Unendlichkeit" erzählt von einem tollen Vater, der plötzlich krank wird.
Gurkes Papa ist praktisch veranlagt: kennt sich mit Toastern aus, die er in einem Elektrofachhandel verkauft, macht tolle Falafel, wischt den Badezimmerspiegel sauber und holt Gurke immer pünktlich von der Schule ab. Deshalb stichelt Gurkes Mutter manchmal, er sei ein "Pedant". Ein Träumer ist er aber auch. Einer, der Pläne für die Zukunft schmiedet, die so vielleicht nie eintreten werden, und von Erlebnissen berichtet, die wahrscheinlich ein bisschen erflunkert sind, von Begegnungen mit Schnee-Eulen und spektakulären Fängen beim Angeln.
Gurkes Mama schreibt gerade ihre DOKTORARBEIT in Astrophysik und könnte der Welt um sie herum nicht ferner sein. Während Papa nur vegetarisch kocht, gibt es bei Mama Thunfischsalat, um leer gefischte Meere macht sie sich keine Sorgen: "Ist doch alles nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Universums." Vielleicht ist ihre DOKTORARBEIT (immer in Großbuchstaben) aber auch einfach zu präsent, um noch Raum für andere, weltlichere Probleme zu lassen.
Das Elternpaar in Oskar Kroons Kinderbuch "Gurke und die Unendlichkeit" könnte kaum unterschiedlicher sein, ganz so, als stammten beide von zwei verschiedenen Planeten. Klappen kann das trotzdem, und so heißt es in Kroons Buch gleich zu Beginn: "Am Anfang war alles so gut, aber das konnte man da noch nicht wissen. Es war einfach, wie es war. Die Zeit verging, und die Sterne klebten an ihren Plätzen. Im Frühling kamen die Mauersegler; ich lag neben Papa auf der Brücke und sah, wie sie uns Nachrichten in die Luft schrieben. Das All wurde immer größer, und der Weltuntergang war weit weg."
Der Weltuntergang kommt erst näher, als Gurkes Papa krank wird. Er fängt an zu husten und hört einfach nicht mehr auf. Erkältung oder Asthma sind es nicht, er wird dünner und dünner und muss irgendwann ins Krankenhaus. Gurke bleibt allein mit der Mutter, die mit der Situation nur schwer zurechtkommt. Ein Kind zu versorgen, zu kochen und pünktlich an der Schule zu sein, dafür hat sie einfach keinen Kopf. Bald stapeln sich die Pizzakartons, und der Joghurt im Kühlschrank ist sauer geworden.
Obwohl "Gurke und die Unendlichkeit" von Krankheit erzählt, steht nicht diese im Mittelpunkt, sondern der Kranke selbst. Denn um zu verstehen, warum jemand fehlt, muss man wissen, was ihn ausmacht. Und so schildert Kroon sehr genau, warum Gurkes Papa ein ganz besonderer ist. Das ist schön und stellenweise, wenn Gurke sich einsam und verloren fühlt, den Vater schrecklich vermisst, auch wahnsinnig traurig. Kroon schreckt vor dieser Traurigkeit nicht zurück, er erzählt sie in Bildern. Während sich die Sterne über Gurkes Kinderbett langsam ablösen, verstehen wir, wie dessen Universum aus den Fugen gerät.
"Gurke und die Unendlichkeit" heißt Kroons Buch zwar, handelt im Gegensatz zum Titel aber eher von Dingen, die endlich sind. Davon, wie Gurkes Vater sich Sorgen um Natur und Wald macht oder Gurke in der Schule lernt, dass nicht nur ferne Arten wie das Nashorn vom Aussterben bedroht sind, sondern auch scheinbar gewöhnliche Tiere wie der Grauspecht. Und natürlich ist auch das menschliche Leben, das Leben des Vaters, endlich, auch wenn das für ein Kind nur schwer zu begreifen ist: "Ich verstehe nicht, wie ein Papa verschwinden kann. Ich verstehe nicht, wie jemand, den es immer gegeben hat, plötzlich weg sein soll. Ich verstehe nicht, wie dieser Planet nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Universums sein kann."
Wenn Gurkes Mutter, den Kopf im All, vom Weltuntergang erzählt, dann tut sie das deshalb sorglos, weil die Vorstellung so abstrakt ist wie für Gurke ihre DOKTORARBEIT. Was sich in solch fernen, unvorstellbar großen Dimensionen abspielt, muss einen nicht berühren. Der Vater hingegen kann mit diesen großen Gedanken nichts anfangen ("Vor lauter Unendlichkeit wird mir ganz flau") und berichtet deshalb lieber, wie viele Staubsaugerroboter er verkauft hat. Wenn er von Verlust spricht, dann meint er konkrete Dinge, meint die Makler, die mit ihren Bauprojekten den Wald zubetonieren.
"Gurke und die Unendlichkeit" ist deshalb ein so gelungenes Buch, weil es von der Spannung erzählt, die sich aus diesen beiden Dimensionen ergibt. Von der Größe des Universums und dem kleinen Leben, dass sich innerhalb dessen abspielt. Ein Leben, das nicht unbedeutend ist, weil es klein ist oder endlich, sondern gerade deshalb großartig und schön.
Ob Gurkes Vater am Ende wieder gesund wird, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Es ist für das Buch aber auch nicht entscheidend. Weil der Tod nicht nur dann präsent ist, wenn er auch wirklich eintritt, und weil wir das Leben um uns herum dann umso mehr schätzen, wenn wir uns dessen bewusst sind. ANNA VOLLMER
Oskar Kroon: "Gurke und die Unendlichkeit".
Mit Bildern von Friederike Ablang. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat. Thienemann Verlag, Stuttgart 2024. 160 S., geb., 13,- Euro. Ab 10 J.
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