Besprechung vom 11.09.2024
Und so standen wir alle nur an den Zäunen
Wendekinderblick: Der sehr anregende Bild- und Textband "Ostflimmern"
"Wenn mich jemand fragt, ob ich mich als Ostdeutsche fühle, antworte ich gelegentlich: Ja, aber erst seit 2015." Das schreibt die 1989 in Gera geborene Historikerin und Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout im Vorwort zum vorliegenden Band, der eine grenzüberschreitende Mischung aus Fotokunst, Essayistik und literarischen Texten bietet.
Seinen Titel "Ostflimmern" erklärt der 1985 in Zeitz geborene Fotograf und Mitherausgeber Philipp Baumgarten als ein "Flackern und Zittern, als flüchtiges Schimmern oder als nervöses Zucken in einer bedrohlichen Atmosphäre". Baumgarten entdeckt, zum Beispiel in seiner Heimatstadt, eine Unentschlossenheit, ob die auch auf seinen Bildern sichtbaren Narben "als Medaillen" zu tragen oder Schönheitsfehler sind.
Bedrohlich kann in diesen Bildern sowie in den Texten aber nicht nur das Alte, sondern auch das Neue wirken. Ebendies scheint typisch für die darin sich zu Wort meldende Generation der "Millennials mit DDR-Hintergrund". Die Geburtsdaten der Beitragenden reichen von 1982 bis 1995. "Räumlich und körperlich zwischen Industriebrachen" aufgewachsen, "gedanklich mit US-amerikanischer Popkultur sozialisiert", sind ihre Erinnerungen und Gefühle bezüglich Herkunft und Identität verschieden und zeugen teils auch von innerer Zerrissenheit.
Während es also einerseits um die Frage geht, ob für diese Generation die Kategorien Ost und West vielleicht gar nicht mehr so bedeutend sind (wie einmal zu hoffen war), zeigen sich andererseits Gefühle wie Scham über das Verlassen der Heimat und gibt es den Befund, dass gerade in jüngster Zeit wieder eine ostdeutsche Identität empfunden oder zugeschrieben wird. Dazu noch einmal Annekathrin Kohout: "Ich erinnere mich gut daran, wie sehr die journalistischen Darstellungen des 'braunen Ostens' im Zuge der sogenannten 'Flüchtlingskrise' einerseits meine eigene Wahrnehmung der politischen Stimmungslage bestätigt, mich andererseits aber auch verletzt haben. Ich fühlte mich plötzlich angesprochen. Auch in unserer Generation wurde die Ostidentität nicht zum Verschwinden gebracht - im Gegenteil." Kohout bezieht sich auch auf viel diskutierte Debattenbeiträge und Bücher wie die von Steffen Mau und Dirk Oschmann (siehe zuletzt F.A.Z. vom 30. August). Oschmann erinnert sie an ein Kinderbuch aus der DDR mit dem Titel "Der Igel, der keiner mehr sein sollte". Der versucht sich anderen Tieren anzupassen, erntet dafür aber nur Spott.
"Hat sich Oschmann so gefühlt?", fragt Kohout. "Ist er, der privilegierte Professor, der alle nur denkbaren Freiheiten genießt, etwa ein Opfer? Wurde er deshalb so wütend? Hat er deswegen letzten Endes seine Stacheln ausgefahren? Und gilt das - wenn man bedenkt, wie lange das Buch die Bestsellerlisten belagerte - für sehr viele Ostdeutsche?"
Die Beiträge des Bandes lassen auch darauf verschiedene Antworten zu. Manche kultivieren den "Wendekinderblick" (Philipp Baumgarten) ostentativ, indem sie sich zurückversetzen, andere wirken abgebrühter.
Interessanterweise reagieren manche Beiträge auf Baumgartens Bilder auch in der Form des Gedichts - nicht nur die 1989 in Dresden geborene Satirikerin und Schriftstellerin Paula Irmschler ("Superbusen"), sondern auch die 1990 in Gardelegen geborene Journalistin Valerie Schönian, die etwa mit dem Sachbuch "Ostbewusstsein" hervorgetreten ist: "Und so standen wir alle / nur an den Zäunen / lauschten dem Geröll / Die Eltern / betrachteten ihr Happy End / das in Baggern anrollte / und zermalmte / was sie nicht betrauern durften / Und wir Kinder / spielten schon woanders / merkten nicht mal / dass da etwas verschwand / das uns gehörte".
Während der 1986 in Halle an der Saale geborene Kurator Philipp Schreiner ein Schlaglicht zurückwirft auf die Nachwende-Situation der in die DDR immigrierten Vietnamesen, abwertend und kurioserweise "Fidschis" genannt, schreibt mit der 1995 in Thüringen geborenen Journalistin Nhi Le eine Frau, die sich schon selbst als "Fidschi" bezeichnet sah, über ihre Angst, nach dem Umzug nach Hamburg bald zu einer Art "Wessi-Ethnologin" des Ostens zu werden. Der 1989 in Dresden geborene Kulturwissenschaftler Peter Hintz blickt schließlich auf "heutige ostdeutsche Identitätspolitiken, bei denen es längst nicht mehr bloß um DDR-Marken wie 'pfeffi' und 'Nudossi' geht" - sondern etwa um Uwe Tellkamps Versuch, die sächsische Kunstszene als fundamental dissident und politisch widerständig darzustellen.
Bilder und Texte in diesem Band kreisen um das explodierende Konsumangebot seit den Wendejahren, etwa in Form der wie Pilze aus dem Boden schießenden Shoppingcenter. Auch wenn die Bilder von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich gedeutet werden können, ist eine Selbsterklärung des Fotografen zu ihnen aufschlussreich. Denn während manche darin vielleicht eine Trauer über den Niedergang des Alten sehen könnten, merkt Baumgarten an, auch das Neue, genauer: der Städtebau der Neunzigerjahre nach westlichem Vorbild und seine ästhetischen Qualitäten, sei "bisweilen nur mit Humor zu ertragen: Nicht selten kommt hier eine Hässlichkeit zum Ausdruck, der ich bildnerisch mit Sarkasmus gegenübertrete."
Auch wenn im "Ostflimmern" durchaus ostalgische Züge aufscheinen, geht solche Kritik am Westen, solcher Sarkasmus darin nicht mit Ausschließlichkeit und Verbitterung einher, das Gesamtbild des Bandes ist differenziert. Auch das könnte, hofft die Herausgeberin Annekathrin Kohout, ein Fortschritt ihrer Generation sein: dass sie mehr "Ambiguitätstoleranz" besitzt als die ihrer Eltern. JAN WIELE
Philipp Baumgarten,
Annekathrin Kohout (Hrsg.): "Ostflimmern".
Wir Wende-Millennials.
Mitteldeutscher Verlag, Halle an der Saale 2024. 176 S., geb., Abb.
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