Ich habe schon lange keine Roadmovie-Lektüre gelesen - das hat sich durch Oxana Wassjakina mit Die Steppe nun geändert.
Doch um was für einen Roadtrip handelt es sich hier?!
Oxana tritt die Tour mit ihrer Lebenspartnerin an, sie leisten ihrem (ihr fremden) Vater Gesellschaft mehrere Tage quer durch die Steppe Zentralrusslands. Das hat mich ja an sich schon total gecatcht, denn die Umstände werfen Fragen auf: Wieso ist ihr Vater ihr fremd? Zehn Jahre hat sie ihn bisher nicht gesehen, denn ihr Vater flüchtete aus Sibirien in seine Heimatstadt Astrachan um einem Strafverfahren zu entgehen. Noch dazu hat er sich optisch total verändert und Oxana erkennt ihn kaum wieder. Wer ist der schlecht gealterte Mann, der mit erst 40 Jahren eher aussieht wie ihr Opa?! Sein Drogenkonsum hat ihn gezeichnet - aber er ist jetzt clean, quasi ein Ex-Junkie, der nochmal die Kurve gekriegt hat.
Eindrückliche Bilder sind automatisch in meiner Gedankenwelt aufgeploppt beim Lesen der Zeilen Wassjakinas, denn sie schafft es das Leben ihres Vaters perfekt abzubilden mit Worten und spricht im Geist mit einem fiktiven Du. Sie kämpft zwar mit ihren eigenen Ambivalenzen fährt mit der Gefühlsachterbahn durch Scham, Groll, Verbitterung und innere Leere, aber schafft es dabei pathosfrei und ohne nur einen Hauch von Larmoyanz, wieder auszusteigen.
Mit Passieren der Steppe und des Wolga-Ufers lässt sich durch die Naturbeschreibungen das eindrucksvolle Talent der Autorin für Nature Writing erahnen. Sie porträtiert ihren 1967 geborenen Vater als Sinnbild für eine männlich dominierte Generation, die mit den Unwägbarkeiten der in die Brüche gehenden Sowjetunion struggelte, aber sich dem
Ganzen stellte erhobenen Hauptes.
Oxanas Kindheitserinnerungen reflektiert sie anhand von Verweisen auf ihre Ur- und Großeltern. Sie denkt an die gemeinsame Zeit in Sibirien, die sie sehr geprägt hat und verarbeitet es literarisch, auch indem sie historisch Bezug nimmt.
Total umgehauen haben mich die Lebenswahrheiten des Vaters, die Oxana bruchstückhaft herausfindet, denn hier haben wir es einmal wieder mit hartem Tobak zu tun (also überlegt Euch bitte, ob ihr aktuell die Kapazitäten habt, über solche Themen zu lesen).
Ihm ist (fast) nichts erspart geblieben. Zunächst als Taxifahrer unterwegs, wird er zum kriminellen Bandenmitglied und verwickelt sogar die eigene Familie in brutale Machenschaften. Auch ein langes Leben ist ihm nicht vergönnt und er stirbt mit nur 47 Jahren an den Aids, er ließ sich nie von Ärzten behandeln diesbezüglich. Oxana erfährt erst nach seinem Tod, dass er überhaupt erkrankt war - durch frühere sexuelle Begegnungen und verunreinigte Heroin-Spritzen.
Versöhnlich gestimmt hat mich die Lebensfreude dieses vom Leben gebeutelten Mannes, denn auch wenn es bis jetzt vielleicht nicht so geklungen hat - der Frohsinn ist auch vertreten.
Ich empfehle diese Lektüre allen Leser*innen, die mehr über die Generation Männer erfahren möchten, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgesetzt waren und welche Steine und Geröllbrocken ihnen in den Weg gerollt wurden. Aber Oxana hat mit Die Steppe nicht nur ein Memoir über ihren Vater verfasst, sondern auch über sich als Tochter. Was macht es mit einem Kind, wenn der Papa verschwindet und als Ex-Junkie, der an Aids sterben wird, wieder zurückkehrt?!
Mir hat das Buch Russland näher gebracht, nicht nur historisch, sondern auch kulturell und menschlich. Danke Oxana Wassjakina - ich fühle mich literarisch und menschlich bereichert nach dieser Lektüre!