Besprechung vom 19.04.2018
Neue Chance für die Literatur?
Weit oben auf den Bestsellerlisten steht derzeit das Buch eines Autors, der keinen großen Verlag hat. Aber ein Millionenpublikum bei Youtube.
Es war ein herrlicher Tag in der Welt von Freedom": So unspektakulär beginnt ein Roman, der gerade ganz oben auf den Bestsellerlisten steht und dem gebeutelten Buchmarkt zum ersten Mal seit langem wieder einen Überraschungserfolg bei jungen Lesern beschert. Sein Titel ("Freedom - Die Schmahamas-Verschwörung") und sein Autor (Paluten, zusammen mit Klaas Kern) werden den einen nichts, den anderen alles sagen, je nachdem, ob sie zu den 2,7 Millionen Menschen gehören, die Palutens Youtube-Kanal abonniert haben, und ob sie dort regelmäßig die meist zehn bis fünfzehn Minuten langen Filme aus der Welt "Freedom" ansehen - Folgen wie "Hilfe! Ich wurde gebissen! Verwandlung in einen Werwolf!" bringen es dort auf mehr als 900 000 Zugriffe, während die halbstündige 380. Folge ("Das Finale"), veröffentlicht am 4. Februar 2017, sogar mehr als eineinhalb Millionen Mal angeklickt worden ist.
Paluten heißt eigentlich Patrick Mayer, im Januar ist er dreißig Jahre alt geworden. Auf seinen Videos sieht er jünger aus, auch seine hohe Stimmlage trägt zu dem Eindruck bei, und meist ist er sowieso eher akustisch als optisch präsent, weil ein wesentlicher Teil seiner Filme die Welt des Computerspiels "Minecraft" zeigt. Das ist bei Jugendlichen seit Jahren extrem beliebt. Es ermöglicht das Erbauen virtueller Welten aus würfelförmigen Teilen unterschiedlicher Natur, und avancierte Spieler arbeiten sich rasend schnell vom schutzlosen Flüchtling zum Farmer und zum Bewohner eines Luxusanwesens hoch. Sie können sich dabei auch mit anderen Spielern zusammentun oder mit ihnen konkurrieren. Viele von ihnen filmen das und stellen das Ergebnis auf die Videoplattform Youtube. Manche werden dabei zum Star, oft weniger durch ihre besonderen Fähigkeiten als Spieler, sondern eher als Entertainer, die das Geschehen kommentieren. Und einige wenige vermögen ihr Publikum dabei wie Paluten so zu fesseln, dass es für ein episches Abenteuer wie "Freedom" reicht, das sich über mehr als ein Jahr hinzieht und schildert, wie Paluten gemeinsam mit seinem besten Freund, dem Schwein Edgar, den bösen Herrscher Xaroth besiegt und Edgars Frau Claudia befreit.
"Krass", heißt es in einem jüngst publizierten Kommentar unter dem Finalfilm: "Heute sind es schon 1 Jahr und 10 Tage ohne Freedom. Ich vermisse es irgendwie immer noch. Ist das nur mir so ergangen? Ich hab mich als Freedom endete gefühlt als wäre ein Haustier gestorben oder so."Genau hier setzt "Die Schmahamas-Verschwörung" an.
Paluten ist nicht der einzige und schon gar nicht der erste deutsche Youtuber, der ein Buch publiziert. Da ist etwa der dreißigjährige Florian Mundt, der sich in seinem Youtube-Kanal LeFloid nennt und vor einem Dreivierteljahr bei S. Fischer das Taschenbuch "Wie geht eigentlich Demokratie?" herausbrachte, oder Daniel Tjarks ("Taddl"), der gemeinsam mit Ardian Bora ("Ardy") das Erklärvideoformat "What The Fact!? - Unnützes Wissen" bereits vor drei Jahren für den Ullstein-Verlag in ein Taschenbuch überführte, oder ein "Luca", der als "Concrafter" erst einen Band mit Minecraft-Tipps und dann mit "Hallo, mein Name ist Luca" als Einundzwanzigjähriger bei S. Fischer seine Autobiographie publizierte.
Auf den Bestsellerlisten für Sachbücher waren besonders diejenigen Titel vertreten, in denen Youtuber ihre Popularität mit dem Gegenstand verbanden, mit dem sie berühmt geworden sind - ein Minecraft-Spieler schreibt über Minecraft, der Inhaber eines Politikkanals über Politik. Bei Palutens "Freedom" aber liegen die Dinge insofern anders, als das Buch ausdrücklich als Roman daherkommt, der von einer Welt erzählt, die bis dahin komplett anders rezipiert worden ist - in bewegten Bildern, als Livespektakel. Transferiert wird hier also gerade nicht das Wissen darüber, wie man sich in der Welt des Computerspiels zurechtfindet, sondern eine Spielhandlung samt Figuren wie "Kapitän Schmierhose", "Professor Ente", ein "militärisches Super-Huhn" namens Dieter und natürlich Paluten und Edgar. Sie alle treten so würfelförmig auf, wie man sie aus dem würfelbasierten Spiel kennt, und sie alle lösen sich langsam aus den Vorgaben der Algorithmen, indem sie nun erzählt werden.
Eine Parallelwelt, randständig und seltsam? Nicht, wenn man sich im Buchhandel umhört, wo Palutens Roman begeistert begrüßt wird, und nicht, wenn man einen Blick auf die Bestsellerlisten wirft, wo "Die Schmahamas-Verschwörung", erschienen am 29. März, abwechselnd mit Ferdinand von Schirachs "Strafe" an der Spitze zu finden ist. Es geht dabei auch nicht darum, wie gut oder schlecht dieses Buch geschrieben ist, von dem Paluten in einer Youtube-Botschaft sagt, er habe es mit seinem Ko-Autor vor allem verfasst, um zu unterhalten. Er beruft sich in der Frage, ob das literarischen Anspruch per se ausschließe, auf Marcel Reich-Ranicki, der das bekanntlich anders sah.
Die Diskussion, die man angesichts der Befürchtungen um die schwindende Leselust gerade von Jüngeren führen müsste, ist die, warum die sogenannten digital natives ausgerechnet zu einem gedruckten, stabil gebundenen und mit farbigen Illustrationen versehenen Buch greifen, einem durcherzählten Roman, und das in einer solchen Anzahl, dass es bereits Lieferengpässe gibt. Dazu ein Buch, dessen Verlag Community Editions nicht gerade durch üppige Anzeigenwerbung aufgefallen ist und das auch nicht entfernt so umfangreich besprochen wurde wie die meisten Titel, die sich auf der Bestsellerliste weit hinter "Freedom" finden.?
2,7 Millionen Youtube-Abonnenten, so kann man sich das deuten, sind eine glänzende Basis für den Erfolg auch eines gänzlich anders gearteten Produkts - eines Romans. Das spricht weder für noch gegen das Buch, aber es ist ein Argument dafür, sich in Zeiten, in denen viel über Editionsformen gesprochen wird, darauf zu besinnen, worum es in der Belletristik nicht zuletzt geht: um die Geschichte, die erzählt wird. Wenn eine halbe Million Menschen täglich einer solchen Geschichte folgen und wissen wollen, wie sie weitergeht, dann kann das ein Buch eben, was die Verkäufe angeht, nach ganz oben befördern. Und zwar durch die Leselust von Menschen, die sonst eher auf den Bildschirm schauen.
TILMAN SPRECKELSEN
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