"Mit Fremden sprechen" ist eine vom Autor selbst zusammengestellte Auswahl seiner besten Essays und Schriften aus fünfzig Jahren, die sowohl berühmte Texte als auch bislang Unveröffentlichtes enthält. Beginnend mit einer kurzen philosophischen Betrachtung, die er mit zwanzig schrieb, und schließend mit einer Reihe von politischen Texten über Themen wie Obdachlosigkeit, 9/11 oder den Zusammenhang zwischen Fußball und Krieg, bieten die 44 Stücke dieser Auswahl einen großen Überblick über Austers Ansichten zu klassischen und zeitgenössischen Schriftstellern, zur Hochseilartistik von Philippe Petit, zu seinen Kunstaktionen mit Sophie Calle und dem langen Weg, den er mit seiner geliebten mechanischen Schreibmaschine zurückgelegt hat. Ebenfalls enthalten sind jüngere Texte über die Notizbücher von Nathaniel Hawthorne, die Filme von Jim Jarmusch, eine Vorlesung zu Edgar Allen Poe, eine Tirade gegen den ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Trump-Gehilfen Rudy Giuliani sowie die lustigste Einführung zu einer Dichterlesung, die in Amerika je gehalten wurde. .
Hochintelligent und zutiefst menschlich - eine unverzichtbare Kollektion für alle Leser und Fans des "angesehensten amerikanischen Schriftstellers seiner Generation". (The Spectator)
Besprechung vom 18.02.2021
Weiter auf der literarischen Winterreise
Er hörte Amerika erzählen und zerbrach fast daran: In einer Essaysammlung zieht Paul Auster die Summe seines kritischen Schaffens
Vor zehn Jahren erschien Paul Austers bis dahin persönlichstes, nicht nur im übertragenen Sinne intimstes Buch. Es trägt den Titel "Winterjournal" und erzählt die eigene Lebensgeschichte anhand von Körpererfahrungen. Sein Ausgangspunkt ist die ans eigene Ich gerichtete Frage, "wie das für dich war, in diesem Körper zu leben - vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute". Der Schreiber, der sich unverrätselt als Paul Auster zu erkennen gibt, versteht sein Journal als einen "Katalog an Sinnesdaten", der am Ende auf eine Frage und eine Erkenntnis hinausläuft: "Wie viele Morgen bleiben noch?" Und: "Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten." Das Buch trifft ins Mark.
Auster war vierundsechzig Jahre alt, als er sein Journal schrieb, und seine literarische Winterreise setzte sich seither fort. In einem dokumentarisch angelegten "Report from the Interior" schilderte er die politischen und religiösen, ästhetischen und emotionalen Prägungen seiner Jugend im Zusammenspiel von Text und Bild, und im Großroman "4 3 2 1" erkundete er, indem er die Biographie seines Helden in vier komplex zusammengestrickten Versionen erzählte, die lebensentscheidende Bedeutung des Zufalls. In diesen Werken vereinen sich rückblickende Selbstbetrachtungen und Epochenporträts, Existenzphilosophie und literarische Spielfreude - ohne jenen sentimentalen Narzissmus, der Spätwerke in der Literatur manchmal schwer genießbar macht.
Nur vor diesem Werkhintergrund wird verständlich, dass Austers nun erschienene Sammlung von Essays aus fünfzig Jahren mehr ist als nur ein publizistischer Wiederaufguss. Unübersehbar wird dies im Fall eines bisher unveröffentlichten Stücks über Edgar Allan Poe, dem Auster einen kleinen Einführungstext voranstellt: Es handele sich um handschriftliche Notizen zu einem Vortrag aus dem Jahr 1982, den ein Archivar der New York Public Library bei der Erschließung von Austers Papieren, also seines Vorlasses, "entdeckt" habe. Daran anschließend folgt ein langer Brief über den Lyriker George Oppen von 1984, den Auster ebenfalls vorneweg kommentiert: "2012 fand ich in einer Schachtel mit alten, unveröffentlichten Texten diesen Brief." So betrachtet ist "Mit Fremden sprechen" ein buchförmiges Archiv in eigener Sache, dessen Adressatenkreis nicht allein die heutige Leserschaft, sondern auch eine imaginierte Nachwelt ist.
Nun, welches Bild entwirft Paul Auster von Paul Auster in und mit seinem Buch? Unverkennbar das eines Menschen, der seine Existenz ganz und gar der Literatur verschrieben hat. Ausdrücklich spricht er dies in einer Preisrede von 2006 aus, die der Essaysammlung ihren Titel gibt und außerdem herausgehoben am Ende des Bandes abgedruckt ist: "Der Roman ist der einzige Ort auf der Welt, an dem zwei Fremde sich in uneingeschränkter Zweisamkeit begegnen können. Ich habe mein Leben im Gespräch mit Menschen verbracht, die ich nie gesehen habe . . . und hoffe, dies bis zu meinem letzten Atemzug zu tun. Es ist das Einzige, was ich jemals wollte."
Damit schließt Auster die Klammer um seine Textsammlung, wenngleich die vermeintliche Sonderstellung des Romans darin keine größere Rolle spielt. Ob er gelehrt über die moderne französische Dichtung schreibt, deren Vermittlung in die Vereinigten Staaten er zeitweise hauptverantwortlich betrieb, ob er sich zu Kafkas Briefen, Hamsuns "Hunger" oder zur Hochseilartistik eines Philippe Petit äußert - stets hat man den Eindruck, er tue dies mit dem aufrichtigen Vorsatz, sich von der Kunst etwas sagen zu lassen, in einen Dialog eintreten zu wollen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der lange Essay über Nathaniel Hawthornes 1851 geschriebene Erzählung "Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny". Es handelt sich um einen für das neunzehnte Jahrhundert ganz außergewöhnlichen Bericht eines Vaters, der sich allein um seinen kleinen Sohn (nebst Häschen) zu kümmern hat. Austers Lektüre ist langsam, eingehend und schließt mit der Bemerkung, dem Autor sei auf "bescheidene, trockene Art" gelungen, wovon alle Eltern träumten, nämlich "die Erinnerung an das Kind immer lebendig zu halten". Hier gelingt etwas, das der Philosoph Hans-Georg Gadamer als höchstes Ziel aller Verstehensbemühungen begreift, nämlich die "Teilhabe" eines heutigen Lesers und eines historischen Textes "am gemeinsamen Sinn".
Aber die besondere "Empfänglichkeit" eines Lesers, um noch einmal mit Gadamer zu sprechen, erschwert zugleich die Abgrenzung - was schlimmstenfalls zum Kollaps führt. Auster beschreibt eine solche Erfahrung im Zusammenhang mit dem "National Story Project", das er um die Jahrtausendwende herum gemeinsam mit einem Radiosender durchführte. Auf seinen Aufruf hin schickten ihm mehr als viertausend Amerikaner ihre Alltagsgeschichten, eine wahre "Flut an Manuskripten", aus der jeweils nur eine kleine Zahl für die Lesungen im Radio auszuwählen war - eine für ihn fast unmögliche Aufgabe: "Mit zu vielen Emotionen musste ich fertig werden, zu viele Fremde hatten ihr Lager in meinem Wohnzimmer aufgeschlagen, zu viele Stimmen drangen von allen Seiten an mein Ohr." Mit Rekurs auf Walt Whitman und das neunzehnte Jahrhundert beschreibt er seine Lage so: "Ich hörte Amerika nicht singen, ich hörte es Geschichten erzählen."
"Mit Fremden sprechen" - für Auster verbindet sich mit diesem Titel unverkennbar eine Ethik der Anerkennung, was sich nicht zuletzt im milden, wohltemperierten Ton seiner Essays bemerkbar macht. Einen durchweg agonal gestimmten Text sucht man in dieser Sammlung vergeblich, ja selbst die politischen Interventionen, die sich in ihr finden, verzichten auf alle Polemik. Man könnte dies als monoton kritisieren, würde damit aber unterschätzen, wie politisch dieses Buch bei aller Selbsthistorisierung zugleich ist: Indem er es selbst praktiziert, geht es Paul Auster um die Formulierung eines Diskursideals, von dem Amerika in den letzten Jahren nicht weiter hätte entfernt sein können.
KAI SINA
Paul Auster: "Mit Fremden sprechen". Ausgewählte Essays und andere
Schriften aus 50 Jahren.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz u.a.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
412 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.