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Besprechung vom 16.06.2023
Tourist des eigenen Triumphs
Auch mit der Kamera beherrschte er die Kunst der gelungenen Komposition: Ein Band versammelt Fotos von Paul McCartney aus den Jahren 1963 und 1964.
Gewiss waren auch die frühen Jahre des Pop nicht so unschuldig, wie man es aus heutiger Perspektive, im Wissen um aktuell verhandelte Abgründe inmitten einer deutschen Hardrockband, glauben mag. "Manchmal kamen Fans zu uns in die Garderobe" - ein solcher Satz lässt sich nun nicht mehr mit jener Arglosigkeit lesen, mit welcher er niedergeschrieben wurde. Man muss aber das Foto betrachten, auf das er sich bezieht, aufgenommen um die Jahreswende 1963/64 in London.
Die leicht verschwommene Aufnahme zeigt eine junge Frau mit dunklen Haaren in einem langen Mantel, in der Hand eine Kamera; sie blickt in Richtung des Fotografen, doch nicht direkt in seine Linse. Sehr cool, sehr selbstbewusst wirkt sie, wie sie da auf dem Tisch sitzt, während die beiden Musiker Ringo Starr und John Lennon, Letzterer mit dem Daumen im Mund, aus ihren Sesseln zu ihr aufschauen. Das Foto wirkt wie eine Umkehr der vermeintlichen Machtverhältnisse - hier die erfolgreiche Band, dort der ehrfürchtige Fan. Dass hier niemand etwas zu befürchten hat, erkennt man auch daran, dass niemand vor dem Treffen seine Kamera abgeben musste, weder die junge Frau noch der Fotograf, bei dem es sich um Paul McCartney handelt.
Aus normalsterblicher Sicht ist die Verschwendungssucht erstaunlich, mit welcher der liebe Gott - oder wer auch immer - McCartney die Talente zugeteilt hat. Sänger, Songschreiber, Multiinstrumentalist, darf es noch etwas mehr sein? Bitte sehr: Die Gemälde McCartneys, der schon als Oberschüler einen Malwettbewerb gewonnen hatte, sind ebenfalls längst ausgestellt worden. Sein 2021 veröffentlichter Monumentalband "Lyrics" wiederum zeigt ihn als belesenen Liedtexter, der sich von Ibsen, Oscar Wilde und Shakespeare inspirieren ließ. Höchst folgerichtig ist nun auch noch ein Buch erschienen, das unter dem Titel "1964 - Augen des Sturms" frühe Fotografien McCartneys präsentiert, flankiert von einer Ausstellung, mit der die National Portrait Gallery in London ihre Wiedereröffnung nach längerer Renovierung feiert.
Knapp 1000 Fotos hat McCartney zwischen Dezember 1963 und Februar 1964 gemacht und in seinem Privatarchiv als Negative und Kontaktbögen aufbewahrt. 275 davon sind für das Buch ausgewählt worden und werden damit, wie es heißt, erstmals "außerhalb des unmittelbaren Freundes- und Familienkreises gezeigt". Die Frage ist unvermeidlich: Werden die jetzt nur publiziert, weil es sich um Paul McCartney handelt, oder kann - beziehungsweise konnte, als er 21 Jahre jung war - der Mann tatsächlich was? Er konnte was: Die Motive und Bildausschnitte belegen, dass McCartney die Komposition auch in visueller Hinsicht beherrschte. Trotzdem, das räumt er selbst ein, haben die Bilder weniger fotografische als historische Bedeutung: "Ich bin ein Gelegenheitsfotograf, der zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war." Das nun ist kokettes Understatement: Als hätte man zufällig ein Beatle sein können.
Beim titelgebenden Sturm schließlich handelt es sich um ebenjenen, den die Beatles selbst ausgelöst haben. Er umtost die Band, als deren Status von berühmt zu weltberühmt wechselt und der US-Chartstürmer "I Want to Hold Your Hand" Anlass zu einem kurzfristigen Amerikatrip bietet. Mit seiner 35-Millimeter-Pentax-SLR-Spiegelreflexkamera wird McCartney zum Touristen des eigenen Triumphzuges. Das beeindruckende Coverbild des Buchs hat er aus dem Heck des Wagens fotografiert, der die Band vor ihnen nachjagenden Beatlemaniacs durch die Häuserschluchten New Yorks hinfort trägt.
Im Auge eines Sturms indes ist es nahezu windstill, und so wirken auch viele der Fotos, die McCartney von seinen Bandkameraden und ihren Begleitern macht, ausgesprochen friedlich. Man sieht keine Posen und kein Misstrauen, sondern entspannte, unverstellte junge Menschen in ihren Schutzräumen, den Hotelzimmern und Garderoben. Eine mütterliche Maskenbildnerin wischt am sehr jung aussehenden Ringo Starr herum. George Harrison gähnt in die Kamera. Ein im Wagen sitzender John Lennon wirkt hinter seinem dunklen Hornbrillengestell ungewohnt zart.
Man sieht Musiker anderer Bands, den Bandmanager Brian Epstein in seltenen unbeschwerten Momenten, sehr viele Drinks und noch viel mehr Zigaretten. Ähnlich intime Bandbilder hat 2015 schon Starr in seinem Buch "Photograph" veröffentlicht, denn 1963 besaßen auch die anderen Beatles schon Kameras. Wie üblich aber ist der Wirbel nun bei Sir Paul noch mal deutlich größer.
Wieder aus dem Auto heraus fotografiert McCartney nonchalante Pariser oder, aus dem Zug nach Washington, schwarze Bahnarbeiter, und man meint hier denselben empathischen Blick zu erkennen, der Songs wie "Eleanor Rigby" oder "Lady Madonna" auszeichnet.
Als klaustrophobisch empfand er all den Beatles-Hype nicht, schreibt McCartney. "Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber mir ging es nicht so. Genau das hatten wir immer gewollt, und als es dazu kam, als berittene Polizei die Massen vor dem Plaza im Zaum hielt, kam es mir vor, als wären wir die Stars in einem sehr aufregenden Film." Womöglich empfanden die anderen drei es anfangs ebenso, allerdings legte sich ihre Euphorie rascher als diejenige McCartneys, der Show und Fankontakt stets am meisten genoss; besonders Harrison war der Beatlemania alsbald überdrüssig.
Der Sturm fand nach dem Februar 1964 noch lange nicht sein Ende, er wurde im Gegenteil immer gewaltiger - und mit seiner Kamera, schreibt McCartney, konnte er "die vielen darauffolgenden Ereignisse kaum mehr dokumentieren". Die überragende musikalische Karriere McCartneys brachte letztlich seine Karriere als Fotograf zum Erliegen. Und so gern man die Bilder des Buches auch betrachtet: Dass es umgekehrt gelaufen wäre, das hätte wirklich niemand gewollt. JÖRG THOMANN
Paul McCartney: "1964 - Augen des Sturms". Fotografien und Betrachtungen.
Aus dem Englischen von Conny Lösch. C. H. Beck Verlag, München 2023. 335 S., Abb., geb.
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