Péter Nádas' neuer Roman ist ein unerwartetes Geschenk. Sprachgewaltig und vielstimmig erzählt er das Leben eines Dorfes am Fluss mit all seinen Bewohnern: Da sind die großen Bauern wie die Tagelöhner, der Priester und der evangelische Pfarrer, ein geistig behindertes Mädchen, eine junge Mutter, der Schäfer des Dorfes, der Lehrer, eine Frau, die Jahrzehnte zuvor unwiderruflich in Schande geriet, ein vom Teufel besessener Bäcker, dazu entwurzelte Aristokraten und Grandes Dames auf Landpartie. Ein Panoptikum von Figuren, getrieben von Missgunst und Bosheit.
Und um die Menschen des Dorfes herum: Gespenster.
Im Verlauf weniger Tage begegnen uns namenloses Elend, Schwäche, Abhängigkeit und Gewalt, in einer Welt, die an Céline und Tschechow erinnert, in der Sprache sich in ihr Gegenteil verwandelt, die Unfähigkeit zu sprechen. Rohe Gier und plötzliche Großmut wechseln einander ab, während dämonische Triebkräfte die Leben der Menschen chaotisch steuern. Dabei fließt die Erzählung ruhig dahin, schlägt Bögen, versammelt immer mehr Orte und Akteure und trägt uns ohne Aussicht auf Rettung einem alles umfassenden Unheil zu.
Besprechung vom 13.10.2022
Totentanz an der Donau
Wer dieses Buch liest, der hört ein ganzes Dorf fluchen: "Schauergeschichten", der neue Roman von Péter Nádas.
Man darf sich den Schreibtisch von Péter Nádas als einsamen, nicht aber als friedlichen Ort vorstellen. Hier finden grausame Schlachten statt, lautlose Gemetzel, begangen von einem zum Äußersten entschlossenen Einzelkämpfer. Er verspürt Mitleid, gibt aber kein Pardon. Er sieht in die Herzen seiner Geschöpfe, kennt aber keine Gnade. Er sehnt sich nach Ordnung und wühlt im Chaos. Er sucht nach höchster Perfektion und fürchtet zugleich den Anspruch auf Vollkommenheit: "Ja, wir streben nach Harmonie, aber gleichzeitig auch nach Freiheit und Unabhängigkeit, und also sind wir bei Weitem keine harmonische Wesen, wir sind zerrissen, bereit zur Selbstvernichtung und zur Vernichtung der Welt."
Dass die Welten, die hier geschaffen, vernichtet und wieder erschaffen werden, nur auf dem Papier existieren, darf nicht vergessen werden. Aber genauso wenig darf vergessen werden, dass sie eben nicht nur auf dem Papier existieren. Was als Literatur zur Sprache kommt, wird zu einem erinnerten Teil der Welt, denn die Erzählung, so schreibt Peter Nádas in "Schreiben als Beruf", seinem großen Essay über die Profession des Autors, "ist immer Vergangenheit". In der Perspektive des Schriftstellers, der Perspektive eines retrospektiven Schöpfungsaktes als Fortschreibung und Variation alles Bestehenden, ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht wichtig. Wichtig ist "deren Wahrnehmung, das Wahrnehmen selbst".
"Schauergeschichten", der neue, fast sechshundert Seiten umfassende Roman von Péter Nádas, ist ein Kabinett der deformierten Weltwahrnehmungen, ein fortlaufender, durch keine Kapiteleinteilung gegliederter Text, der in kunstvoller Aneinanderreihung schonungsloser Introspektionen das trostlose Panorama eines ungarischen Dorfes um 1960 entwirft, dessen Bewohner einander das Leben unerträglich machen. Hier herrschen Habgier, Missgunst und Eigennutz, Heuchelei, Lüge und Verleumdung. "So viele böse Seelen auf einen Haufen", so der Dorfarzt, natürlich ein Zugezogener, habe er noch nie irgendwo gesehen. Nádas führt diese bösen, verwundeten und einander verwundenden Seelen aber nicht einfach nur vor, er öffnet sie vor unseren Augen, legt ihr Innerstes bloß und entfesselt - überwiegend in der Form erlebter Rede - einen mächtigen Bewusstseinsstrom mit Haupt- und Nebenarmen, mal reißend, mal träge dahinfließend, unberechenbar wie die Donau selbst, an deren Ufern das Geschehen spielt, unweit des Städtchens Vac, also nicht fern der Hauptstadt Budapest.
Der Krieg ist vorüber, die Kommunisten haben die Macht übernommen, der Aufstand von 1956 ist gescheitert. Adel und Großbürger sind weitgehend enteignet, haben aber nicht all ihre Privilegien verloren. Den englischen Tee und die schicken Stoffe muss man sich schicken lassen, aus Paris oder Kanada, wohin es die emigrierten Familienmitglieder gerade verschlagen hat. Die alte Teres Várnagy gehörte einst selbst zum Landadel, wurde aber als blutjunge Frau wegen eines Fehltritts von der eigenen Familie verstoßen und musste sich in Budapest als Dienstmädchen verdingen, wo sie jene verfeinerten Lebensformen kennenlernte, die sie nun bei jeder Gelegenheit hingebungsvoll verhöhnt. Ihr ganzes Leben hat sie Fremden gedient, sie umhegt, durchschaut, beschützt und bestohlen. Noch immer ist sie ihrer einstigen Herrin Hella und deren Liebhaber in lodernder Hassliebe verbunden. Doch Hella und der fesche Okolicsányi sind längst tot, ermordet auf ihrer Hazienda im argentinischen Exil, was sie nicht daran hindert, zusammen mit ihren Mördern in jenen heißen Sommertagen als beängstigendes Trugbild bei Teres aufzutauchen, als hätte die nicht schon Kummer genug.
Mit der alten Teres Várnagy, genannt Teres Vogelscheu, hat Péter Nádas eine unvergessliche Frauengestalt geschaffen: eine vor sich hin brabbelnde Alte, die gotteslästerlich flucht, bösartig ist, geizig und hinterhältig, eine jener "hässlichen, stinkenden Vogelscheuchen", jener "vergreisten, verdorrten, garstigen Witwen", wie sie im Dorf von den anderen beäugt, beschimpft und gefürchtet werden. Noch immer eine Außenseiterin, mit der sich niemand abgeben will, noch immer ausgestoßen, verachtet, weil sie sich vor Jahrzehnten einem jungen Mann hingegeben hat und schwanger von ihm wurde.
Als alte Frau ist sie mit ihrem Ersparten in ihr Heimatdorf zurückkehrt, hat sich ein Haus bauen lassen und ein bisschen Land gekauft, das sie nun mit Rosa bestellt, der geistig behinderten, jedem in jeder Hinsicht dienstbaren Tagelöhnerin, die sie herumkommandiert und piesackt, aber auch geradezu liebevoll umsorgt, als wäre sie ihr eigenes, gründlich missratenes Kind. Denn Teres hat ein Herz. Es ist klein, steinhart, von Narben übersät, aber es ist ein Herz. Das kann nicht jeder im Dorf von sich sagen. Das ganze Elend dieser verstoßenen und gehetzten, von Unrecht, Demütigungen und lebenslanger Einsamkeit deformierten Existenz fasst Péter Nádas nach fünfhundert Seiten in diesen einen schlichten Satz: "Wegen einer einzigen großen Schuld wird sie das ganze Leben nicht geliebt."
Die junge Piroschka hingegen ist, was auch Teres einst war: hübsch, mit Privilegien versehen, begehrt. Sie studiert in der Stadt, will vielleicht Forensikerin werden und verbringt die Sommer auf dem Dorf mit empirischen Studien. Das Ungewöhnliche interessiert sie, das Abweichende, nicht der Norm Entsprechende. Vom unkontrolliert in seinem Rollstuhl zuckenden Mischike fühlt sie angezogen, aber auch von Imre, dem hünenhaften Bäckergesellen, in dem Gewalt und Wahnsinn schlummern. Weil sie überzeugt davon ist, dass Imre früher oder später ein Verbrechen begehen wird, überredet sie ihn, Pater Jonas aufzusuchen, der gemäß den Anweisungen des Bischofs sich sogleich daranmacht, eine Teufelsaustreibung vorzunehmen.
Teres, Rosa, Imre und Mischike, keiner von ihnen entgeht seinem Schicksal, sei es nun selbstgewählt oder fremdbestimmt. Und sehr langsam schält sich nun aus dem Strom erlebter Rede eine Art Handlung heraus, die auf den letzten sechzig Seiten ungeheure Fahrt aufnimmt und an einem drückend heißen Sonntag im Sommer in eine Katastrophe mündet. Meisterhaft führt Nádas nun die zuvor lose nebeneinander herlaufenden Handlungsfäden in einem furiosen Finale zusammen und lässt das Unglück seinen Lauf nehmen. Mit einer Gruppe junger Menschen aus der Stadt, die gekommen sind, um Piroschka auf eine Fahrt den Fluss hinunter mitzunehmen, hält gegen Ende auch noch ein Element der modernen Welt Einzug in das modernde Antiidyll, strahlende Fremdkörper auf der Durchreise, "eine mitreißende, fröhliche Gesellschaft, hübsche Mädchen und Burschen, sämtlich verwöhnte Geschöpfe des Lebens". Nur folgerichtig, dass sie unbekümmert weiterrudern, ohne etwas vom Tod und dem Verderben zu bemerken, dass sie hinter sich lassen.
Die "Schauergeschichten" von Péter Nádas sind kein menschenfreundliches Buch. Sie blicken mit viel Verständnis und wenig Zuversicht auf ihre Figuren und beschwören eine Welt herauf, ohne uns zu verraten, ob diese Welt nun untergegangen ist oder in anderer Gestalt immer noch fortexistiert. Den zweiten der drei Essays, die der soeben erschienene Band "Schreiben als Beruf" versammelt, beendet Nádas mit einer Bemerkung zum Genre der Horrorgeschichten, an denen er gerade arbeite: "Je schauerlicher eine Geschichte, das heißt, je mehr sie sich aus der archaischen Schicht des menschlichen Bewusstseins nährt, umso mehr brauche ich, um sie zu schreiben, Klarsicht und klares Sehen."
Aber nicht weniger wichtig als die Klarsicht ist für diese "Schauergeschichten" das feine Ohr des Schriftstellers. Denn der archaischen Gesetzen gehorchende Mikrokosmos, den Nádas hier heraufbeschwört, entsteht nicht so sehr durch die Beschreibungen des namenlosen Erzählers, der sich nur selten bemerkbar macht, sondern er erwächst vor allem aus der kunstvoll gehandhabten Mündlichkeit, mit der Redensarten, Floskeln und zahllose Flüche aneinandergereiht werden: "Du weißt es, und ich weiß es auch. Ihre Nachbarn trauten sich nicht zu sagen, was sie mit eigenen Augen im Mondlicht gesehen hatten, als sie hinausspähten. Dass sie bloß durch ihre Worte nichts Böses auf sich ziehen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich weiß, und ob ich weiß, was auch du weißt. Es ist schon sehr traurig, mein Engel, dass man bei uns so was wissen muss. Was würd ich dafür geben, dass mein Elternhaus nicht hier stehen tät. Warum kommt immer Schande und Kummer über uns. Wenn wir dasselbe denken, dann sage ich dir, besser ist, wir schweigen."
Wer diesen Roman liest, der hört ein ganzes Dorf reden - auf Deutsch in der fabelhaften Übersetzung von Heinrich Eisterer. Er hört aber auch das ungesagt Bleibende. Das ist all das, für das die Dörfler keine Sprache haben. Das ist ihr wahrer Fluch. Denn wer nichts hat, was er einmal vererben könnte, der vererbt eben die Sprachlosigkeit, die Lieblosigkeit und die Einsamkeit, unter denen er sein ganzes Leben lang gelitten hat. Schließlich, und das ist die wahrhaft schaurige Moral dieser "Schauergeschichten", soll niemand es einmal besser haben, als die, denen es ihr ganzes Leben lang schlecht ergangen ist. Am morgigen Freitag wird Péter Nádas achtzig Jahre alt. HUBERT SPIEGEL
Péter Nádas: "Schreiben als Beruf".
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 96 S., geb., 18,- Euro
Péter Nádas: "Schauergeschichten". Roman.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 576 S., geb.
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