Besprechung vom 03.08.2024
Die Anstöße der Diaspora
Konsequent aus jüdischer Perspektive: Peter Schäfer legt eine Geschichte des askenasischen Judentums vor, die einige verbreitete Vorstellungen revidiert.
Peter Schäfer gehört zu den besten Kennern der jüdischen Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Er hat als Judaist an der FU Berlin und in Princeton gelehrt und war bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Sein neues Buch beschäftigt sich mit dem Judentum in Mitteleuropa und legt den Schwerpunkt auf die mittelalterliche Geschichte. Wie der Untertitel anzeigt, bettet Schäfer seine Erzählung in einen breiten historischen Kontext ein, in dem er sowohl weit in die biblische und nachbiblische Epoche zurückgreift als auch wichtige Prägungen der Frühen Neuzeit und der Moderne in den Blick nimmt. Damit spannt er einen Bogen vom biblischen Land Israel, Mesopotamien, Ägypten und dem Römischen Reich über das mittelalterliche Mitteleuropa bis zu Polen-Litauen und dem imperialen Russland, in dem er die Anfänge des Zionismus verortet und damit der Idee einer Rückkehr der europäischen Juden nach Palästina mit der Gründung des Staates Israel.
Das Buch vermittelt Einblicke in die jüdische Geistes- und Kulturgeschichte, die als grundlegende Stütze jüdischen Lebens deutlich wird. Die politische Geschichte von Verfolgungen und Vertreibungen, wie sie europäischen Jüdinnen und Juden immer wieder erfahren mussten, findet ebenfalls ihren Platz, doch - und dies ist ein wichtiges Verdienst Schäfers - sie wird konsequent aus jüdischer Perspektive und aus jüdischen Quellen heraus erzählt. Damit dekonstruiert das Buch zugleich viele weit verbreitete Narrative, sei es zum Verhältnis zwischen "Mutterland" und "Diaspora", zu "1700 Jahre jüdische[n] Leben[s] in Deutschland" oder zur vermeintlichen Rückständigkeit des osteuropäischen Judentums.
Im ersten Teil, "Herkunft", thematisiert Schäfer das Verhältnis von "Mutterland und Diaspora" im jüdischen Altertum und diskutiert die in der modernen Geschichtswissenschaft etablierte implizite Annahme, die jeweils dem "Mutterland" eine geistige und kulturelle Führungsrolle gegenüber der Diaspora zuschreibt; ein Narrativ, das auch in der zionistischen Historiographie eine zentrale Rolle spielte. Schäfer arbeitet heraus, dass gerade im Bereich der Gelehrsamkeit zentrale Einflüsse eben von der "Diaspora" ausgingen: über die Jahrhunderte fand der "babylonische Talmud" erheblich größere Resonanz als der im "Mutterland" entstandene "Jerusalemer Talmud".
Im zweiten Teil, "Verbreitung", widmet sich Schäfer zunächst der Frage, woher der Begriff "Aschkenas" stammt, bevor er auf die viel beachtete Urkunde Kaiser Konstantins für die Stadt Köln 321 eingeht. Der darauf aufbauenden Erzählung von "1700 Jahren" stellt er entgegen, dass es danach für mehrere Jahrhunderte keine Belege für jüdische Gemeinden gegeben habe. Er zeichnet die Migrationswege vom Mittelmeer nach Norden und Osten nach, welche im Hohen Mittelalter dann auch ein aschkenasisches Judentum in Mitteleuropa begründeten.
Der dritte Teil ist überschrieben mit "Gemeindeleben" und stellt mit über neunzig Seiten eines der beiden zentralen Kapitel des Buches dar. Einleitend behandelt Schäfer die Ursprungslegenden der "Frommen von Aschkenas" und fragt, wie jüdische Gelehrte im Mittelalter selbst die Anwesenheit an Rhein und Donau erzählt haben. Anschließend zeigt er die rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in der nichtjüdischen Umwelt auf und dekonstruiert kenntnisreich das Narrativ der "jüdischen Knechtschaft", das von einer Markierung der Zugehörigkeit in der kirchlichen Polemik zu einem Symbol der Unterordnung und Ausgrenzung umgedeutet wurde.
Zwei kurze Kapitel geben knappe Überblicke über die wirtschaftliche Stellung der jüdischen Bevölkerung und die Institutionen innerhalb der jüdischen Gemeinden. Kernstück sind die Porträts von sieben jüdischen Gemeinden im mittelalterlichen Aschkenas, von Köln über die rheinischen Städte Mainz, Speyer und Worms, deren gemeinsame Gemeindestatuten zum Vorbild für die Organisation jüdischer Gemeinden in ganz Mitteleuropa wurden, weiter ostwärts nach Regensburg und Prag sowie schließlich zu Frankfurt am Main. Die letztgenannte entstand als einzige erst nach den Verfolgungen des ersten Kreuzzugs, aber ihre "Judengasse" (seit 1463) wurde im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Archetyp des vormodernen "Ghettos" stilisiert (Louis Wirth: "The Ghetto", 1928) und prägte damit unsere Vorstellung von jüdischem Leben in der Frühen Neuzeit mit.
Ebenso zentral ist bei Schäfer der vierte Teil, "Leben mit der Torah", in dem er die zentrale Rolle der Torah und ihrer Auslegung für das jüdische Leben herausarbeitet. Der erste Abschnitt, "Einübung in die Torah", argumentiert, dass die Torah nach der Zerstörung des Tempels zum Inbegriff des Heiligen wurde und so auch von frühester Kindheit an in der Schulbildung im Mittelpunkt stand. Anschließend nimmt sich Schäfer den Raum, um diesen bedeutenden, aber in anderen Darstellungen kaum belichteten Aspekt jüdischer Kultur zu vermitteln. Er beginnt mit der Bibelauslegung einer der größten Autoritäten des 11. Jahrhunderts, Rabbi Schlomo ben Jizchak, genannt Raschi, und erläutert anschließend das komplizierte Geflecht der Kommentare zur Bibelauslegung (mündliche Torah, Talmud) sowie der Kommentare und Ergänzungen zum Talmud anhand von Beispielen aus Raschis Werken. Drei weitere Abschnitte erklären dann die praktischen Dimensionen der jüdischen Bibelexegese, im Rechtsleben wie in der religiösen Dichtung.
In einem weiteren Abschnitt des Kapitels geht Schäfer auf ein Phänomen der jüdischen (Eliten-)Kultur im Mittelalter ein, welches zwar in der Judaistik seit Jahrzehnten intensiv bearbeitet wird, aber in historischen Forschungen noch kaum Widerhall gefunden hat. Die Bewegung der "Frommen von Aschkenas" zwischen etwa 1150 und 1250 mit ihren Zentren am Rhein und in Regensburg beeinflusste Frömmigkeit und Selbstverständnis der mitteleuropäischen Juden bis weit in die Neuzeit hinein. Ihre Lehre verband einen rigorosen Pietismus mit esoterischem Streben nach Gotteserkenntnis. Zentral für dieses Streben ist die Figur des Gerechten, dessen Frömmigkeit und Weisheit ihn so an Gott annähert, dass er selbst zu einem Schöpfungsakt - der Erschaffung des Golem - befähigt wird. Dieser Golem ist ein weiterer Topos, der über die Jahrhunderte immer wieder rezipiert wurde und im zwanzigsten Jahrhundert die Phantasie auch einer nichtjüdischen Öffentlichkeit anregte. Schäfer macht deutlich, wie sich die Figur des Golem in die mittelalterliche Geisteskultur einfügte und wie wenig dies mit ihren modernen Überformungen zu tun hat.
Im letzten Unterkapitel diskutiert das Buch bildliche Darstellungen in der jüdischen Kunst. Nach mehreren Jahrhunderten, in denen figürliche Abbildungen verpönt gewesen waren, kam es seit dem dreizehnten Jahrhundert zu einem Wandel, der einerseits mit innerjüdischen Debatten, besonders um das Verbot des Götzendienstes, zusammenhing, andererseits aber auch die enge Kommunikation mit der christlichen Umwelt bezeugt.
Der fünfte Teil widmet sich den Verfolgungen und Vertreibungen, denen die jüdische Bevölkerung in West- und Mitteleuropa von der Zeit des Ersten Kreuzzugs 1096 bis an die Wende zur Neuzeit ausgesetzt war. Auch hier steht die jüdische Perspektive im Vordergrund: die Reaktionen auf die Gewalt, von Klageliedern und der Erinnerung an das Leid in jüdischen Chroniken bis hin zum "Kiddush ha-Shem", der Selbsttötung, um der Zwangstaufe, dem erzwungenen Abfall vom jüdischen Glauben, zu entgehen. Die antijüdischen Legenden und Beschuldigungen jener Zeit wurden ebenso wie die vulgären bildlichen Darstellungen bis in den modernen Antisemitismus immer wieder aufgegriffen.
Seit dem späten Mittelalter entwickelte sich im östlichen Europa die jüdische Kultur in einem zunächst sehr viel besseren Umfeld. Schäfer handelt die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen knapp ab und kommt dann auf zentrale Entwicklungen im jüdischen Geistesleben zu sprechen: von der jüdischen Mystik (Kabbala) über die messianistischen Bewegungen von Sabbatai Zwi und Jakob Frank bis zum Chassidismus und seinen Gegnern, den Wegbereitern der modernen Orthodoxie. Mit dem östlichen Europa verknüpft sind auch neue politische Strömungen: der jüdische Sozialismus und die Anfänge des Zionismus, die ohne den Konflikt der imperialen Ordnung mit den wachsenden Nationalismen in Mittel- und Osteuropa nicht zu erklären sind. Schäfer bleibt aber auch hier nicht bei der politischen Analyse stehen, sondern diskutiert abschließend auch die kulturellen Implikationen in Form der neuhebräischen und jiddischen Literatur.
Es sind diese immer wieder und konsequent eingeflochtenen Brückenschläge zwischen jüdischem Geistesleben und Geschichte, welche dieses Buch auszeichnen, das über ein Fachpublikum hinaus Interesse verdient. JÜRGEN HEYDE
Peter Schäfer: "Das aschkenasische Judentum". Herkunft, Blüte, Weg nach Osten.
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. Verlag C. H. Beck, München 2024. 560 S., Abb., geb.
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