»Mit diesem komplexen und zugleich wunderbar lesbaren Buch adressiert Rahel Jaeggi die Fortschrittsmüdigkeit unserer Zeit. « Frankfurter Rundschau
Die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung sozialer Sicherungssysteme, die Sanktionierung von Vergewaltigung in der Ehe gelten gemeinhin als gesellschaftlicher Fortschritt - als ein Wandel zum Besseren. Dennoch hat die Idee einer generellen Fortschrittsbewegung ihren alten Glanz verloren, ja, sie ruft sogar Skepsis hervor. In aller Munde ist hingegen die Diagnose der Regression. Sie wird diversen Zeiterscheinungen gestellt, vom rechtsautoritären Populismus bis zur Demokratiemüdigkeit.
Rahel Jaeggi verteidigt in ihrem Buch das Begriffspaar Fortschritt und Regression als unverzichtbares sozialphilosophisches Werkzeug für die Kritik unserer Zeit. Als fortschrittlich oder regressiv versteht sie nicht nur das Resultat, sondern vor allem die Gestalt gesellschaftlicher Transformationen selbst. Indem sie nach den Erfahrungsblockaden fragt, die regressiven Tendenzen Vorschub leisten, entwickelt sie einen Begriff des Fortschritts, der eurozentrische Verzerrungen ebenso vermeidet wie die Vorstellung einer zwangsläufigen Entwicklungstendenz. Fortschritt, so zeigt sie, ist nicht der Vorlauf zu einem bereits bekannten Ziel, sondern der nie abgeschlossene Prozess der Emanzipation.
Besprechung vom 26.01.2024
Wandel im Wandel
Es muss halt gelernt werden: Rahel Jaeggi bemüht sich um einen ausweisbaren Begriff von Fortschritt
Es wird oft vergessen, dass die Frankfurter Schule eine Außenstelle in Berlin unterhielt. Walter Benjamin und Herbert Marcuse, erster Institutsphilosoph an der Seite Max Horkheimers, kamen aus Berlin, wo das Projekt eines postproletarischen Marxismus eine andere Prägung erhielt. Er war aktivistischer, revolutionärer und messianischer, ein echtes Produkt der Hauptstadt, in der entschieden wird, während in Frankfurt, der Stadt der Zirkulation, das Leben unter dem Eindruck des automatischen Subjekts, des Kapitals, stand, was eine gewisse Zögerlichkeit nährte. Heute gibt es das zweite Standbein wieder. Wichtige Figuren der vierten (Christoph Menke), fünften (Rahel Jaeggi) und sechsten (Eva von Redecker) Generation leben oder unterrichten in Berlin und geben der Kritischen Theorie einen eigenen Touch, der an die Berliner Ursprünge anschließt. Konzepte, vor denen man sich in Frankfurt lange fürchtete, sind hier eine Selbstverständlichkeit, zum Beispiel Kommunismus (Menke), Revolution (Redecker) und Geschichtsphilosophie mit Aussicht auf Fortschritt.
Über Letzteres hat Rahel Jaeggi ein Buch geschrieben, das seit vielen Jahren angekündigt und oft verschoben wurde und dessen Entstehungsbedingungen bereits etwas über den Inhalt verraten: Der Fortschritt ist langwierig, er wird immer wieder zurückgeworfen, doch es gibt ihn. Dies mag überraschen angesichts der zahlreichen Regressionsphänomene der letzten Jahre: der Aufstieg des Rechtspopulismus, eine sich zuspitzende Klimakrise, immer neue Kriege, Angriffe auf den Sozialstaat, eine verrohte Sprache sowie Geflüchtete, die man im Mittelmeer ertrinken lässt - waren wir nicht schon einmal weiter? Jaeggi leugnet dies nicht, sondern macht es zum Ausgangspunkt ihrer Erzählung: Wo Regression erkannt wird, hat ein moralischer Fortschritt stattgefunden, er ist gewissermaßen die vernünftige "Kehrseite" der Verrohung, die allerdings selbst keine ganz unschuldige Vergangenheit hat und allzu oft als Deckmantel für Herrschaft und Unterdrückung herhalten musste.
Mit allen Wassern der postkolonialen, ökologischen und feministischen Kritik gewaschen, macht sich Jaeggi daran, einen Fortschrittsbegriff zu entwickeln, der selbst einen Fortschritt gegenüber der naiven Vorwärtseuphorie des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet: Er ist "nicht-teleologisch, pragmatisch-materialistisch" und "plural", kennt also verschiedene Wege, die kein Ziel haben, sondern von Missständen wegführen. Im Kern ist er die Fähigkeit, auf Probleme oder, in Zeiten beschleunigten Wandels, Krisen zu reagieren und seine Problemlösungskompetenz für einen "anreichernden Erfahrungsprozess" zu nutzen.
Fortschritt ist unentwegtes Lernen. Regressiv ist dagegen eine Blockadehaltung, eine Lernunwilligkeit, sodass, eine schöne Pointe des Modells, auch ein Weiter-so regressiv sein kann. Ohnehin scheint das Lineare, lange Zeit Ideal des Fortschritts, dessen wahrer Feind zu sein. Jaeggi begreift Fortschritt als "Wandel im Wandel", als Möglichkeit, den Kurs zu korrigieren oder sogar - hier ergibt sich ein Berührungspunkt mit der Revolution - auszubrechen und nach anderen Lebensformen Ausschau zu halten, die krisenkompatibler sind, während das Regressive an Realitätsunverträglichkeit leidet.
So entsteht ein Begriff von Fortschritt, der auch seine Nachtseite im Blick hat. Allerdings nur die äußere, die Regression durch Materialverunstaltung (Rache der Natur) und Gegnergruppen, die den erreichten Fortschritt infrage stellen (Rache von rechts), während die Subjekte des Fortschritts erstaunlich makellos aus der Affäre hervorgehen. Dabei finden in diesen oft die unheimlichsten Verschlingungen von Fortschritt und Regression statt. Adorno, die Hauptreferenz des Buches, fürchtete sich vor Progressiven, die am Gegenteil arbeiten, obwohl sie die besten Absichten hegen, etwa den Kreis der politischen Subjekte erweitern wollen. So mag das Aufschließen des globalen Südens zum reichen Norden die globale Wohlfahrt steigern. Doch es liefert dem Weltsystem, aus dem Adorno herauswollte, auch eifrige Mitarbeiter, verschärft die Konkurrenz und erhöht die Gefahr der Regression. Das Gebaren der BRICS lässt erahnen, was Adorno meinte. Horkheimer hat es noch schärfer formuliert.
Bedeutet dieser Subjektschaden nun, dass in jedem Tänzer um den Freiheitsbaum ein Guillotinenbauer schlummert? Dies ist zumindest der Verdacht aus Frankfurt, wo man auch bei der heutigen Fortschrittsavantgarde, den "sozialen Bewegungen", auf die Jaeggi setzt, Deformationen vermutet. Tatsächlich gibt es bereits Indizien. Die Hamas-Sympathien bei Black Lives Matter, Fridays for Future und einigen Queerfeministinnen könnten ein Hinweis auf das Regressive am Progressiven sein.
Vielleicht gilt Jaeggis "Vorrang der Selbstkritik" also nicht nur für das eigene Land, sondern auch für das eigene Lager, das akribisch nach Regressionstendenzen untersucht werden müsste, weil sich hieran die Geschichte entscheidet. Regression wäre dann kein einfaches "Verlernen", sondern ein Ausagieren des Diabolischen, der Triumph der Nachtseite des Fortschritts, der jedoch, so die gute Nachricht, nicht endgültig ist, weil der nächste Tag bestimmt kommt. In Berlin hingegen, wo potentiell immer Tag ist, will man sich damit nicht zufriedengeben und macht schon mal das Licht an. Darüber sollte sich Frankfurt nicht ärgern. Es lebte stets von seinem Berliner Zusatz, an dem es sich - wie Adorno und Horkheimer an Marcuse - rieb und Kontur gewann. Berlins vorübergehendes Verschwinden nahm der Sache ein wenig den Drive. Heute jedoch, da die Frankfurter Schule erneut in einem hübschen Doppelhaus residiert, ist die Kritische Theorie wieder jene Mischung aus Schwung und Vorsicht, die wir so schätzen. MORITZ RUDOLPH
Rahel Jaeggi: "Fortschritt und Regression".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 252 S., geb.
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