Besprechung vom 09.10.2021
Wie kommt der Geist in die Maschine?
Gaspard Koenig und Ralf Otte folgen auf verschiedenen Wegen den Debatten um Künstliche Intelligenz
Bloß zwei Monate im Sommer des Jahres 1956 veranschlagten John McCarthy, Marvin Minsky, Nathaniel Rochester und Claude Shannon, um Computern das Denken beizubringen. Wenngleich sie sich gewaltig verschätzten, gilt jene Dartmouth-Konferenz als Geburtsstunde des eigenständigen Fachgebiets Künstliche Intelligenz (KI). Das Wort selbst findet sich erstmals in dem Schreiben, mit dem die Wissenschaftler bei der Rockefeller Foundation um Mittel für ihre Tagung warben. Seither hat die Informatik eine atemberaubende Entwicklung genommen: Aus raumfüllenden Riesenrechnern wurden schlanke Smartphones, die Milliarden Menschen vernetzen und vermessen, und Rechner demonstrieren Leistungen, die zumindest bis dahin als intelligent galten, Schachspielen beispielsweise.
Die Diskussionen über KI aber verlaufen wie seit Anbeginn tendenziell zweigleisig. Einerseits rein technologisch, wenn es etwa um die Spezifikationen der künstlichen neuronalen Netze geht, um Trainingsdatenmengen und Lernalgorithmen. Anderseits mit philosophischer oder gar theologischer Konnotation, wenn es um jenen zentralen Vergleich geht, der unterschwellig nicht nur Informatiker an der KI fasziniert: Worin unterscheiden wir uns eigentlich von Maschinen?
Nun sind zwei lesenswerte Bände erschienen, die beides leisten, nämlich Grundlagen der KI vermitteln und den Versuch unternehmen, uns im Verhältnis zu dieser Schlüsseltechnologie zu verorten. Dem französischen Philosophen und Aktivisten Gaspard Koenig ist eine erfrischende und kurzweilige Reportage gelungen, die rund um den Globus zu Technikern, Unternehmern und Geisteswissenschaftlern führt, die an KI arbeiten oder über sie nachdenken. Koenig trifft etwa den amerikanischen Zauberer-Tüftler John Gaughan, der sich für historische Automaten interessiert und den "Schachtürken" nachbaut, eine einst gelungene Vortäuschung von Intelligenz. Oder er plaudert mit Yann LeCun, einem Gewinner des Turing Award, der an der New York University und für Facebook KI weiterentwickelt.
An der Tsinghua-Universität in Peking lässt er sich von dem Biologen Hongwei Wang erklären, dass und warum so etwas wie eine künstliche "Superintelligenz" prinzipiell nicht körperlos zu haben sein werde. Das sieht nicht jeder so, macht aber auch nichts. Koenig will lernen, lässt daran teilhaben, zweifelt, lässt sich überwältigen. Und fürchtet sich. Eine Sorge ist es, die ihn auf seiner weiten Reise begleitet und die er mal mehr, mal weniger direkt durchscheinen lässt: Wie eigenständig bleiben wir tatsächlich? Wie frei entscheiden wir wirklich, wenn laufend automatisierte Essens-, Lese- oder Fitness-Empfehlungen eingehen und sich die "KI als Optimierungsgewalt" noch weiter ausbreitet?
Auf den Punkt bringt Koenig seine Befürchtung so: "Die Debatten über die Superintelligenz verschleiern das eigentliche soziale Problem dieser Technologie, nämlich die Frage nach dem freien Willen. Die industriellen Anwendungen der KI, die sich in Windeseile entwickeln, neigen dazu, die individuelle Wahl aus unserer Existenz zu entfernen. Um uns besser zu Diensten zu sein, hindern sie uns daran, selbst Entscheidungen zu treffen, die unweigerlich vorurteilsbehaftet und schlecht informiert sind." Ob das schlimm ist, lässt er offen, traut sich selbst nur eine Spekulation zu, die für einen Philosophen wie ihn allerdings bemerkenswert ist: "Vielleicht ist der freie Wille nur ein scholastisches Märchen, eine Illusion, die loszuwerden wir stolz sein könnten. Aber einmal mehr müssen wir uns vollständig bewusst machen, was wir damit bereit wären zu verlieren."
Doch was fehlt der Künstlichen Intelligenz, wie sie heute zur Anwendung kommt, eigentlich genau zu menschenähnlicher Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit? Gibt es eine grundsätzliche Grenze für das derzeit mit so hohen Erwartungen vorangetriebene "Deep Learning"? Ja, meint der Informatiker Ralf Otte, der in seinem Buch die Unterscheidung zwischen Maschine und Mensch ausbuchstabiert. Für Otte ist klar, dass rein auf Software, also auf programmierten Lernalgorithmen, basierende KI nicht das ausbilden kann, was wir Menschen Geist oder Bewusstsein nennen, und Selbstbewusstsein schon gar nicht. Die Umgebung zumindest in einem gewissem Sinne subjektiv erleben zu können ist für Otte eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die KI auf eine nächste Stufe des Verstehens zu überführen: "Für viele Tätigkeiten wie Reden, Streiten, Witze erzählen, Bilder oder Straßenverkehr wahrnehmen, Dichten und Lieben benötigen wir Menschen nämlich Geist (Mind), und den haben heutige KI-Maschinen nicht. Es wird also immer unmissverständlicher deutlich, dass die zukünftigen Maschinen Geist benötigen, um gewisse Tätigkeiten des Menschen nachahmen zu können."
Dass Intelligenz, Geist und Bewusstsein Begriffe sind, unter denen nicht alle dasselbe verstehen - eine grundlegende Schwierigkeit der einschlägigen Diskussionen -, nimmt er zum Anlass, das unter ihnen Befasste zu umreißen. Zugleich gibt er einen kurzen Überblick über die Geschichte der KI und die beiden zentralen Herangehensweisen der Forscher, die einerseits auf logikbasierte Expertensysteme setzen und andererseits auf das derzeit angesagte maschinelle Lernen. Sodann schildert er, in welchen Anwendungen heute schon KI-Systeme eingesetzt werden, gibt manchen technologiepolitischen Rat und kommt schließlich auf jenen Forschungszweig, den er für besonders vielversprechend hält, um die KI intelligenter zu machen: sogenannte neuromorphe Computer, in denen unsere Vorstellung von der Funktionsweise des Gehirns nicht bloß als Software angenähert, sondern als Hardware physikalisch umgesetzt sein soll. Ein Ausblick mit Exkursen in die organische Elektronik und den Transhumanismus runden eine Analyse ab, die nachdenklich macht und die populäre Diskussion um KI kompetent ergänzt um Bereiche, die sonst häufig zu kurz kommen.
Weder eine irgendwie geartete künstliche "Superintelligenz" noch eine sich ihrer selbst bewusste Maschine sind in naher Zukunft zu erwarten, das ist Ergebnis der Reise Koenigs wie der Analyse Ottes. Beide kommen auf unterschiedlichen Wegen zu dem Ergebnis, dass physikalische Körperlichkeit und ein rudimentäres subjektives Empfinden unentbehrlich sind, um hier technologisch voranzukommen. Zuerst braucht es Verkörperung in einer Welt, dann geht's ans Denken. ALEXANDER ARMBRUSTER.
Gaspard Koenig: "Das Ende des Individuums". Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz.
Aus dem Französischen von Tobias Roth. Galiani Verlag, Berlin 2021. 400 S., geb., 24,- Euro.
Ralf Otte: "Maschinenbewusstsein". Die neue Stufe der KI - wie weit wollen wir gehen?
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021. 248 S., geb.
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