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Besprechung vom 11.07.2021
Preußische Hausfrau
Auf dem Leipziger Parteitag 2003 brach Angela Merkel mit dem konservativen Sozialstaat. Darauf kam sie nie wieder zurück. Aber an einer protestantischen Wirtschaftsethik hielt sie fest. Ein Vorabdruck aus der Biographie von Ralph Bollmann
Für die SPD übernahm der Parteivorsitzende Franz Müntefering die Aufgabe, die Realitäten zu akzeptieren und der CDU-Vorsitzenden zum Amt der Bundeskanzlerin zu verhelfen. Merkel fragte an, ob man sich unterhalten könne. Am 9. Oktober 2005, exakt drei Wochen nach der Wahl und dem selbstbewussten Auftritt des amtierenden Bundeskanzlers in der Elefantenrunde des Fernsehens, trafen sich die beiden Nüchternen am späten Nachmittag im Jakob-Kaiser-Haus des Deutschen Bundestags, wo ihre Büros übereinander lagen, unter vier Augen.
Müntefering eröffnete seiner Kollegin von der Union, das zentrale Hindernis für ein mögliches Regierungsbündnis sei deren Idee einer Neuen Sozialen Marktwirtschaft, also einer Generalrevision des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaats. Wenn sie in der Lage sei, davon Abstand zu nehmen, könne man im Gespräch bleiben. Merkel reagierte auf ihre Art. Sie sagte weder Ja noch Nein, sondern schaute den SPD-Kollegen an und fragte nur: "Wann können wir uns treffen?" Damit war das Thema erledigt. Sie kam nie wieder auf den radikalen Umbau des Sozialstaats zurück, den sie auf dem Leipziger Parteitag zwei Jahre zuvor propagiert hatte.
Dabei war es dieses Delegiertentreffen am 1. Dezember 2003 gewesen, das ihr erst den Weg zur Kanzlerkandidatur gebahnt hatte - in der Stadt, in der sie studiert hatte und in der noch immer alte Straßenbahnen aus tschechoslowakischer Produktion zum Tagungsort, der Neuen Messe weit außerhalb der Stadt, rumpelten. Die Parteivorsitzende ließ den radikalen Vorschlag eines einkommensunabhängigen Beitrags zur Krankenkasse beschließen - und das Konzept für eine radikal vereinfachte Einkommensteuer, bei der sich alle Formalitäten auf einem Bierdeckel erledigen ließen.
Der Leipziger Parteitag markierte, je nach Perspektive, den Höhe- oder Tiefpunkt in Merkels Bestreben, das alte westdeutsche Sozialsystem zu überwinden. Die programmatischen Festlegungen besaßen eine große taktische Komponente. Merkel hatte kühl analysiert, aus welchen Gründen ihr starke Kräfte in Partei und Bevölkerung zwei Jahre zuvor die Kanzlerkandidatur nicht zugetraut hatten. Das lag zunächst einmal daran, dass kaum jemand der früheren Frauen- und Umweltministerin die nötige ökonomische Kompetenz zuschrieb, um die wichtigste europäische Wirtschaftsnation anzuführen. Sie wollte den amtierenden Bundeskanzler an Reformeifer übertreffen, was fürs Erste in der Öffentlichkeit verfing: Nicht nur in Wirtschaftskreisen galt die sozialdemokratische Agendapolitik, die Schröder später das Amt kostete, noch als viel zu wenig ambitioniert, waren die CDU-Beschlüsse auf einmal das Maß aller Dinge.
Allerdings musste sich die Parteivorsitzende für die Leipziger Beschlüsse auch nicht verbiegen. Dass Wohlstand erst erarbeitet werden müsse und dass die Deutschen sich anstrengen sollten, um im globalisierten Wettbewerb mitzuhalten: Dieses kulturprotestantische Konzept von Wirtschaft und Arbeitswelt lag schon ihrem ersten Zeitungsbeitrag als Pressesprecherin des "Demokratischen Aufbruchs" zugrunde. "Dreh- und Angelpunkt unserer weiteren Entwicklung ist die Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage", schrieb sie in der Berliner Zeitung vom 10. Februar 1990. "Wenn es uns nicht gelingt, im Rahmen einer neuen Wirtschaftsordnung Werte zu erwirtschaften, können wir im sozialen und ökologischen Bereich auch nichts verteilen." Zum Beweis, dass sie sich wirklich eingearbeitet hatte, griff sie tief in die Zeit um 1948 zurück. "In dieser Hoffnungslosigkeit entwarfen Ludwig Erhard (CDU) u. a. (W. Eucken, F. Böhm und A. Müller-Armack) das phantastisch anmutende Konzept, die Wirtschaft nur noch über den Wettbewerb und über den Markt zu steuern."
Der kurze Artikel brachte gleich in mehrfacher Hinsicht das wirtschaftspolitische Grundverständnis zum Ausdruck, dem Merkel auch in späteren Jahren folgte: Sie vertraute auf Markt und Wettbewerb und verstand den Zusammenbruch der DDR als Mahnung, dass Verteilungsspielräume erst zu erarbeiten seien. Die Grundidee war eher von protestantischer Arbeitsethik geprägt als von neueren ökonomischen Theorien. Aber "sozialdemokratisiert", wie manche von Merkels Kritikern in den eigenen Reihen später behaupteten, waren die wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen der Physikerin mit Sicherheit nicht. Die Politikerin aus dem Osten war eine Liberale in gesellschafts- wie in wirtschaftspolitischer Hinsicht.
Die nüchterne Pragmatikerin glaubte schon 1990 an den Primat der Ökonomie. Die DDR war demnach nicht in erster Linie an ein paar widerspenstigen Theologen gescheitert, die in ihrer Pfarrgemeinde zu Friedensgebeten einluden. Sie ging vielmehr an wirtschaftlichem Unvermögen zugrunde. Die Hunderttausende von Bürgern, die 1989 auf die Straße oder in den Westen gingen und den Staat damit zum Einsturz brachten, taten das in ihrer großen Mehrheit nicht aus dem abstrakten Wunsch nach Demokratie und Freiheitsrechten. Sie hatten vielmehr das Bedürfnis, endlich zum materiellen Lebensstandard des Westens aufzuschließen. "Die Liebe zur Freiheit wäre auch in der alten Bundesrepublik ohne stabile D-Mark nicht so groß gewesen", stellte Merkel im Rückblick nüchtern fest. Die Erfahrung von 1989/90 lehrte sie, dass der Erfolg eines Staatswesens entscheidend von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhing und dass Stillstand auf lange Sicht den Untergang bedeuten konnte.
Eine wirtschaftspolitische Ideologie im Sinne irgendeiner ökonomischen Schule verband sich mit diesem preußischen Leistungsethos bei Merkel allerdings nicht. Anders als etwa in Menschenrechts- und Demokratiefragen, wo sie sich notfalls ein hartes und schnelles Urteil zutraute, verfolgte sie hier keine ein für alle Mal fest gefügte Agenda. Ob nun irgendwelche Beitrags- oder Steuersätze um ein paar Prozent höher oder niedriger ausfielen, das blieben für sie Fragen, die dem politischen Kompromiss immer zugänglich sein mussten. Diese Haltung erleichterte es ihr, die Konsequenzen der Leipziger Beschlüsse für die praktische Politik nach der Regierungsübernahme drastisch zurückzufahren.
"Leipzig", wie es bald hieß, bedeutete einen Bruch mit den sozialkonservativen Wurzeln der CDU, die der Partei über Jahrzehnte ihre Wahlerfolge gesichert hatten. Auch das unterschätzte Merkel: Die Konservativen hatten ihren Anhängern nie gepredigt, dass das Lebensglück allein im sozialen Aufstieg zu finden sei. Vielmehr hingen sie noch lange der Idee einer gottgewollten Ordnung an, in der für jeden ein Platz zu finden sei, der sein Leben mit Anstand führte. Ausgerechnet diejenigen, die den deutschen Sozialstaat auf dem Prinzip des Statuserhalts aufgebaut hatten, rückten von diesem Prinzip nun ab. Der frühere Generalsekretär Heiner Geißler hatte sich schon zuvor über die "typisch Ossi-liberale Position" mokiert, die Merkel aufgrund ihrer DDR-Erfahrung einnehme: Alles, was die Kommunisten bekämpft hätten, müsse gut sein, also auch der ungebremste Kapitalismus.
Mit Merkel trat erstmals eine Anwärterin auf die Kanzlerschaft auf, die liberale Ideen sowohl in der Wirtschafts- als auch in der Gesellschaftspolitik verfocht. Dafür hatte es in der alten Bundesrepublik keine passende politische Kombination gegeben, weil Schwarz-Gelb das Konservative mit dem Wirtschaftsliberalen verband und Rot-Grün die Orientierung am Sozialstaat mit gesellschaftspolitischer Liberalität. Daher war die Frage, ob Merkel 1990 in die falsche Partei übergewechselt war, nicht richtig gestellt. Sie nahm in ihren politischen Positionen eine Entwicklung vorweg, die wenig später fast alle Demokratien erfasste: die politische Frontstellung zwischen einem liberal-kosmopolitischen und einem sozial-nationalen Milieu. Auch das machte Merkel später zu einem perfekten Hassobjekt für die Populisten.
Auf ihre wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen kam sie erst im Jahr 2008 wieder zurück, fünf Jahre nach Leipzig und drei Jahre nach der Bundestagswahl, als es galt, im Zuge der Weltfinanzkrise den Wunsch nach übergroßen Konjunkturprogrammen und exzessiver Staatsverschuldung abzuwehren. Sie kleidete diese Haltung auf dem Parteitag auf der Stuttgarter Messe in ein Bild, das ihr lange nachhängen sollte: "Man hätte hier in Stuttgart, in Baden-Württemberg, einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen. Sie hätte uns eine ebenso kurze wie richtige Lebensweisheit gesagt, die da lautet: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben. Das ist der Kern der Krise." Zu oft habe man Experten geglaubt, die gar keine Experten gewesen seien, statt einfach der praktischen Vernunft zu folgen.
Mit der Formel von der schwäbischen Hausfrau öffnete Merkel einen Einblick in ihr wirtschaftspolitisches Denken, das von handfestem Alltagsverstand und kulturprotestantischen Prägungen beherrscht war. Das lutherische Elternhaus mit seiner Kultur des Fleißes und des Maßhaltens prägte praktische Lebensführung und wirtschaftspolitische Grundhaltung der Kanzlerin, ganz unabhängig von Religiosität im engeren Sinn. Gern zitierte sie aus Statistiken, dass die Europäer sieben Prozent der Weltbevölkerung stellten und ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung erbrächten, aber stolze 50 Prozent aller Sozialleistungen an ihre Bürger verteilten. Als Bürgerin des postkommunistischen europäischen Ostens blickte die Kanzlerin kritisch auf Westeuropäer, die ein Recht auf stetig steigenden Wohlstand einklagten, während vielen Polen oder Tschechen für sehr viel bescheidenere Gehälter weit mehr Anstrengungen abverlangt wurden.
Als Merkel ein halbes Jahr nach dem Stuttgarter Parteitag zum Gipfeltreffen der G8 ins italienische L'Aquila flog, zeigte sie den mitreisenden Journalisten einen nachgelassenen Aufsatz des gerade verstorbenen deutsch-britischen Soziologen Ralf Dahrendorf aus der Zeitschrift Merkur. Er trug den Titel: "Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik?" Darin attackierte der Gelehrte den grassierenden "Pumpkapitalismus", der sich mit dem Prinzip der Ratenzahlung durchgesetzt habe und den es auf "ein allenfalls verträgliches Maß" zurückzuführen gelte. Die Sätze Dahrendorfs entsprachen ganz und gar Merkels wirtschaftspolitischen Überzeugungen.
Die liberale Demokratie konnte nur überleben, so fand Merkel bis zum Ende ihrer Amtszeit, wenn sie sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zeigte - mental, gesellschaftlich und vor allem auch wirtschaftlich. Sie bewunderte die ökonomische Dynamik, den technologischen Fortschrittsgeist der Chinesen, bei aller Abneigung gegen das autoritäre Einparteiensystem. Sie war davon überzeugt, dass sich der Westen in dieser Systemkonkurrenz nur behaupten würde, wenn er sich nicht in satter Bequemlichkeit zurücklehnte oder in inneren Konflikten aufrieb.
Ihre Zweifel, ob die westlichen Gesellschaften dazu in der Lage wären, wuchsen im Lauf der Zeit noch weiter - wenngleich sie schon in der fast verlorenen Wahl 2005 ihre Erfahrungen mit den Beharrungskräften und Veränderungsängsten der Deutschen gemacht hatte, die im Westen eher aus satter Zufriedenheit und im Osten vor allem aus einem Übermaß an Veränderung resultierten. Anzeichen, dass sie ihre Landsleute auf beiden Seiten für überempfindlich und träge, teils auch für geschichtsvergessen hielt, gab es schon früh. Darüber, was in Deutschland alles falsch lief, konnte sie sich wortreich entrüsten, nicht nur in kleinerer Runde, sondern auch öffentlich, etwa auf dem digitalen Weltwirtschaftsforum Anfang 2021.
Daraus sprach die Ernüchterung vieler Amtsjahre. "Ich werde nicht diejenige spielen, die schon alles erlebt und gesehen hat", versprach sie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu Beginn der Zusammenarbeit. Das war eine Art Selbstbeschwörung: Offenbar ahnte sie, dass genau in dieser langen Erfahrung eine Gefahr für sie lag. Risikofreudig konnte sie durchaus sein, allerdings nur im entscheidenden Moment wie bei der Trennung von Kohl. Im Alltagsgeschäft investierte sie lieber kein politisches Kapital in Vorhaben, die ohnehin an den Beharrungskräften in der Gesellschaft zerschellen würden - ob diese Kräfte nun von den deutschen Ministerpräsidenten vertreten wurden oder von den übrigen Regierungschefs der Europäischen Union, von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden oder Managern, die in ihrer Achtung ohnehin immer weiter hinabsanken. Kurioserweise sah sie sich in einer inneren Distanz zum Establishment, obwohl sie als Regierungschefin längst dazugehörte.
Am Schluss zeigten sich bei allen Verdiensten auch die Schattenseiten dieses Regierungsstils immer deutlicher. Eine Kanzlerin, die 16 Jahre lang amtierte, konnte nicht ständig auf die Schwächen des eigenen Landes deuten, ohne dass dabei auch Finger auf sie zurückwiesen. Das war der Fluch einer langen Regierungszeit. Die Versäumnisse bei der Digitalisierung, die Tücken des kooperativen Föderalismus, die teils beklagenswerten Zustände in der Altenpflege oder eine paradoxe Mischung aus Überbürokratisierung und Anarchie, wie man sie in früheren Jahrzehnten eher aus Italien kannte: Das alles trat in der zermürbenden zweiten Phase der Corona-Pandemie ans Licht.
"Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückspulen", hatte Merkel nach dem Flüchtlingsstreit 2015/16 eingestanden - und damit das Problem einer eher reaktiven als aktiven Politik selbst benannt. Das Versäumnis war indes nicht der Unfähigkeit geschuldet, sondern einem nüchternen Machtkalkül: Kaum etwas ist in der Politik gefährlicher als ein Handeln, das der Zukunft vorausgreifen will. Solange nicht eine akute Krise zum Handeln zwingt, lassen sich Veränderungen schwer durchsetzen. Nur so konnte es Merkel gelingen, 16 Jahre im Amt durchzuhalten, länger als Adenauer und genauso lange wie Kohl. In den unruhigen Zeiten der großen Globalisierungskrisen, die mit dem Zusammenbruch des Weltfinanzmarkts im Herbst 2008 begannen, bedeutete gerade diese Kontinuität einen Wert an sich. Einiges deutet darauf hin, dass sich viele Menschen nach dieser Stabilität bald zurücksehnen könnten.
Ralph Bollmann:
Angela Merkel.
Die Kanzlerin und ihre Zeit. Biografie.
Verlag C.H. Beck, München 2021, 800 Seiten, 69 Abbildungen, gebundene Ausgabe, 29,95 Euro.
Das Buch erscheint am 15. Juli.
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