Literatur als Fokus der ExistenzOhne Zweifel zählt Franz Kafka zu den wichtigsten Vertretern der literarischen Moderne und unüberschaubar ist das Meer von Aufsätzen, Kommentaren und Monographien zu seinem Werk - vergebens suchte man aber erstaunlicherweise bisher eine fundierte deutschsprachige Biographie. Diese Lücke schließt nun der in Osnabrück lebende Literaturwissenschaftler und Autor Reiner Stach: Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erschien beim S. Fischer-Verlag der erste Teil einer auf drei Bände angelegten, voluminösen Kafka-Biographie."Die Jahre der Entscheidungen" lautet der Untertitel des ersten Bandes und Stach öffnet die biographische Blende im Jahre 1910 - zeitgleich mit dem Beginn von Kafkas Tagebüchern. Auf knapp 700 Seiten führt er detailreich und mit literarischem Anspruch vor Augen, wie sich der pflichtbewusste Versicherungsbeamte Franz Kafka in den Jahren bis zum ersten Weltkrieg in den Meister des präzisen Alptraums und des kafkaesken Humors verwandelt.Atmosphärisch dicht rekonstruiert Stach ein Leben, "das auf den Akt des Schreibens radikal zugespitzt war" und durch das Säurebad des ständigen Zweifels und des mannigfachen Scheiterns führte. Unvorstellbar waren die Opfer, die der höchst empfindsame Kafka der Literatur brachte und die ihn ein, wie er selbst es empfand, "schreckliches Doppelleben" führen ließen: Tag für Tag ging Kafka seiner aufreibenden Büro-Arbeit nach und kehrte am Nachmittag in die drangvolle Enge seiner elterlichen Wohnung in Prag heim. Erst weit nach 22 Uhr fand er hier endlich die Ruhe, um seine schriftstellerische Nachtexistenz aufzunehmen. In diesen einsamen Nachstunden formte er, wie Stach resümiert, "jene unnachahmlichen Bilder und Metaphern, die einem durch Mark und Bein gehen" - und die auf verblüffende Weise das Labyrinth der Innenwelt mit jenem einer bürokratisch-technischen Außenwelt zur Deckung bringen.Über sechs Jahre hat Reiner Stach am ersten Teil seiner Kafka-Biographie gearbeitet. Er konnte dabei auf "eine extrem verbesserte Materiallage" zurückgreifen - denn seit Anfang der 90er Jahre stehen die Archive in Prag offen und 1995 wurde auch die kritische Werkausgabe zu Kafka abgeschlossen. Seine Sisyphos-Arbeit konnte Stach "in einer absolut privilegierten Situation" betreiben, denn der S. Fischer Verlag sicherte ihn über den gesamten Zeitraum mit Honorarvorschüssen ab - eine wagemutige und heutzutage fast unglaubliche verlegerische Investition, die sich aber gelohnt zu haben scheint. Denn schon jetzt steht die Kafka-Biographie auf Platz 1 der "Zeit"-Bestenliste und die Rechte konnten sofort an große Verlagshäuser in den USA und Spanien verkauft werden.Mit Reiner Stachs Forschungsergebnissen wird das bisherige Kafka-Bild nun zwar nicht revolutioniert, aber komplettiert und in Teilen auch korrigiert. Völlig vernachlässigt wurde von der bisherigen Forschung so die Bedeutung des 1. Weltkrieges für Kafka. Stach weist eine Vielzahl von sozialgeschichtlich untermauerten, entscheidenden Auswirkungen des Krieges auch auf den nicht eingezogenen Kafka nach - von einem vereitelten Neuanfang in Berlin über eine dramatische Arbeitsüberlastung bis zur schlechten Ernährung. "Der 1. Weltkrieg hat Kafka Leben ruiniert" ist sich Stach demnach sicher.Mit detektivischem Spürsinn konnte Stach auch den Nachlass von Kafkas Verlobter Felice Bauer in New York ausfindig machen. Durch ihre Aufzeichnungen erscheint das letztliche Scheitern der Beziehung, das eines der zentralen Ereignisse in Kafka Leben ist, in einem veränderten Licht. Doch schon in ihrem Frühstadium führte Kafka die Bekanntschaft mit Felice Bauer zu einem regelrechten Erweckungserlebnis: In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1912 schreibt er in einem Rutsch "Das Urteil" - "eine Eruption", so Stach, "die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht". Denn von einem auf den anderen Moment ist der gesamte Kafka-Kosmos präsent und Kafka selber erfuhr zum ersten Mal eine "Zweifellosigkeit" seinem eigenen Schreiben gegenüber. Mit dieser Nacht waren die Würfel gefallen und die Literatur wurde Kafka zum unbedingten Fokus seiner Existenz.© www.titel-magazin.de, Karsten Herrmann