Warum führen Menschen Krieg? Die Antworten auf diese Frage sind so vielfältig wie die Formen kriegerischer Konflikte selbst. Gehört Krieg zur menschlichen Natur, ist er Ausdruck eines aggressiven menschlichen Triebs? Wie hängt Krieg mit dem Wettbewerb um ökonomische Vorteile zusammen, wie verhält er sich zur Frage staatlicher Sicherheit? Was hat Krieg mit Religion und Ideologie zu tun, was mit dem Streben nach Macht oder mit den Veränderungen des Klimas?
Auf fesselnde Weise erkundet Richard Overy die Jahrtausende, von den Anfängen der Menschheit bis heute. Er rekonstruiert längst vergangene Konflikte zwischen Jägern und Sammlern, blickt zurück auf das Römische Imperium und seinen unersättlichen Hunger nach Ressourcen, führt uns mit Alexander dem Großen, Napoleon und Hitler die Auswirkungen politischen Machtwillens vor Augen und zeigt etwa anhand der aktuellen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten, wie sich verschiedene Ursachen für Krieg überlagern und gegenseitig befeuern. Warum Krieg? Einer der bedeutendsten Historiker unserer Tage geht einer der wichtigsten Fragen überhaupt nach.
Besprechung vom 15.10.2024
Frieden kommt vor
Richard Overy versammelt Antworten auf die Frage, warum kriegerische Gewalt beständig ist
Als Aischylos zuletzt seine Grabinschrift verfasste, da sprach er nicht über seine Größe als Tragiker, sondern über seine Tapferkeit im Krieg und allein darüber: "Rühmliches Kämpfen bezeugen ihm Marathons Flur und die Perser . . ." Und dies, wo doch Dichtung und Theater in Griechenland so hohes Ansehen genossen. Aber die Bewährung im Krieg, der Einsatz für die eigene Stadt, das stand eben noch höher. Dabei spricht Aischylos in den "Persern" so eindrucksvoll von den Schrecken des Krieges. Und doch hielt er ihn wiederum, anders als den Bürgerkrieg, für etwas Gegebenes und lässt Athene in der "Orestie" sagen: "Nach außen nur sei Krieg, wie er so leicht entbrennt: / In ihm mag Ruhmsucht sich mit vollen Kräften tummeln! / Geflügel eines Hofes soll sich nicht zerfleischen." Nahezu alle Autoren der Antike dachten so. Das frühe Christentum hatte einen pazifistischen Zug, aber schon Anfang des fünften Jahrhunderts sah sich Augustinus gehalten, über den gerechten Krieg nachzudenken. Der Krieg ist ein allgegenwärtiges Phänomen der Geschichte, in allen Räumen, zu allen Zeiten ist er, wie man wohl sagen muss, zu Hause. Aber wie kommt es?
Darüber hat nun der britische Historiker Richard Overy ein Buch geschrieben. Overy, zuletzt Professor der Universität Exeter, ist ausgewiesener Fachmann für den Zweiten Weltkrieg, er hat zahlreiche Bücher dazu verfasst, darunter zu Russlands Krieg, dem Bombenkrieg und im vergangenen Jahr "Weltenbrand" (F.A.Z. vom 25. November 2023). Aber qualifiziert die Kompetenz auf diesem wichtigen, doch auch recht eng begrenzten Feld dazu, die Frage "Warum Krieg?" zu beantworten, eine Frage, die - so Overy - unter anderem biologische, anthropologische, psychologische und ökologische Gesichtspunkte hat? Der Autor hat da selbst Zweifel, und so lautet sein erster Satz: "Dieses Buch ist aus mehreren Gründen eine Unverschämtheit." Seine Rechtfertigung bestehe in der lebenslangen Befassung des Autors mit dem "größten und tödlichsten Konflikt" der Weltgeschichte und in der "genuin historischen Natur der Debatte" über die Beständigkeit des Krieges in der Geschichte.
Und so widmet sich sein Buch in einem ersten Teil den Faktoren, die er determinierend nennt: denen der Biologie, Psychologie, Anthropologie und Ökologie, wobei er nicht diskutiert, wie stark diese Faktoren bestimmende Kraft haben oder von kulturellen Faktoren bedingt werden. Im Mai 1986 formulierten zwanzig Wissenschaftler die "Erklärung von Sevilla", die sich auch die UNESCO zu eigen machte. Dort heißt es, "wissenschaftlich nicht haltbar" sei die Annahme, der Mensch habe das Kriegführen von seinen tierischen Vorfahren geerbt, sei dazu durch genetische Ausstattung, Evolution, Hirnfunktionen oder psychologisch (Triebe, Instinkte) bestimmt.
Inzwischen sieht die Biologie Overy zufolge das weniger optimistisch. Kriegerische Populationen können durchaus einen evolutionären Vorteil haben. Es gibt Tiere, die in gewissem Umfang zu koalitionärer Gewalt imstande sind, das sind vor allem solche, die vergesellschaftet und in festen Territorien leben, Schimpansen zum Beispiel, auch wenn tödliche Gewalt innerhalb der Art bei ihnen wohl doch selten ist. Ein biologischer Grund zur Kriegsbereitschaft könnte sein, dass im Krieg erfolgreiche Männer leichteren Zugang zu Frauen hatten, weil sie Schutz und bessere Versorgung versprachen.
Auch die Anthropologie ist von der lange verbreiteten (allerdings auch immer umstrittenen) Überzeugung abgerückt, dass prähistorische Gesellschaften tendenziell friedlich gewesen seien. Ausgrabungen zeigen, dass schon Jäger-und-Sammler-Kulturen der Frühzeit kriegerische Gewalt kannten, was auch bei solchen der Gegenwart zu beobachten ist. Allerdings kommt es in der Jungsteinzeit zu einer deutlichen Zunahme der Kriege, was nicht wundern kann: Mit Sesshaftigkeit und Ackerbau gibt es mehr zu erobern und zu verteidigen. Dabei sprechen wir über Zivilisationen, bei denen von Staatlichkeit oder auch nur deren Vorformen nicht die Rede sein kann.
Um es abzukürzen: Was Overy auch darstellt, es läuft jedes Mal auf den Satz von Kenneth Waltz hinaus, der das Motto des Schlusskapitels bildet: "Theoretiker erklären, was Historiker wissen: Krieg ist normal." Nun ist es auch normal, dass Äpfel vom Baum fallen, trotzdem interessiert, warum das so ist. Aber Richard Overy hat ein solches Interesse eben nicht. Wenn er über biologische, psychologische oder anthropologische Erklärungen des Krieges spricht, so muss man auf diesen Gebieten nicht akademisch ausgewiesen sein, um zu sehen, dass der Autor sich nicht richtig auskennt. Er trägt ältere Erklärungen vor und jüngere, die sind die richtigen. Er hat kein eigenes Verhältnis zu den Disziplinen, er kann nicht aus eigener Beschäftigung Position beziehen, bestätigen, Einwände erheben, differenzieren, er kann die Problemlagen nicht ordnen. Es sind knappe Forschungsberichte, erstattet von jemandem, der sich den Stoff rasch angelesen hat.
Das gilt selbst für den zweiten Teil des Buches, in dem es um die nicht deterministischen Faktoren geht, nicht also um eine mögliche elementare Disposition der Menschen zum Krieg, sondern um Motive der Kriegsführung, klassisch historische Fragen. Erörtert werden die Felder Ressourcen, Glaube, Macht, Sicherheit. Nur ein Beispiel: Im Kapitel über den Glauben geht es unter anderem um die Religionskriege der frühen Neuzeit; war die Religion deren "primäre Ursache"? Overys Antwort: "Was die Religionskriege von anderen spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen unterscheidet, ist schlicht und einfach, dass hier der Glaube der vorrangige Motivator für die Gewaltanwendung war." Man kann dem Autor im Ergebnis zustimmen, "schlicht und einfach" ist das Problem aber nicht. Hier zeigt sich beispielhaft die Schwäche des Buches. Overy ist ein Mann von außerordentlicher Arbeitskraft und auf seinem Feld ein Forscher von Gewicht. Doch das Buch, das er schreiben wollte oder sollte, hätte eine intellektuelle, theoretisch aufgeschlossene Natur erfordert, und von diesem Zuschnitt ist er nicht. STEPHAN SPEICHER
Richard Overy: "Warum Krieg?"
Aus dem Englischen von Henning Thies. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
368 S., geb.
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