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Besprechung vom 14.10.2023
Die Vermüllung der Welt
Was der Konsum übrig lässt: Roman Köster erzählt die Geschichte des Abfalls von der Vormoderne bis heute. Dabei beschreibt er nicht nur, was Menschen jeweils als dreckig empfanden, sondern auch, wie unsere Hinterlassenschaften von einem häuslichen zu einem globalen Problem wurden.
Von Kai Spanke
Von Kai Spanke
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs unternahm Aldous Huxley einen Strandspaziergang mit Thomas Mann in Santa Monica. Während sich die beiden über Shakespeare austauschten, bemerkten sie, dass der Sand mit kleinen weißlichen Objekten übersät war. Man mochte, so Huxley, an tote Raupen denken, doch ein zweiter Blick offenbarte, dass es sich um Millionen benutzter Kondome handelte - vom Abflussrohr am Hyperion Beach in Richtung Ozean gespült. Viele Einwohner von Los Angeles entsorgten die Präservative offensichtlich in der Toilette, nicht im Hausmüll. Über die Motive lässt sich nur spekulieren, allerdings liegt die Vermutung nahe, es könnte darum gegangen sein, die Spuren des Akts zu beseitigen.
Roman Köster erzählt diese Anekdote in seiner Abhandlung über die Geschichte des Mülls. Sie zeigt, dass Plastik im und am Meer schon ein Problem darstellte, bevor computergesteuerte Produktionstechniken, Massenmedien und die Werbeindustrie die Kommerzialisierung des Konsums auf das heute vertraute Niveau brachten. Von den Fünfzigerjahren an verschärfte sich die Misere zusehends. Der Archäologe Thor Heyerdahl wies 1969 darauf hin, dass im Pazifik immer mehr Plastik herumschwimme. Wenig später fand der Biologe Theodore Merrell Plastik an den Stränden unbewohnter Inseln in der Nähe von Hawaii. Anschließend zeigte sich, dass der Kunststoff eine weite Reise hinter sich hatte, denn ins Wasser gelangt war er an der japanischen Küste.
Das Meer ist eine beliebte Müllhalde. Die Briten entsorgten den radioaktiven Abfall ihrer Atomkraftwerke in der Irischen See, die Sowjetunion nutzte die Arktische See als Deponie ihres Unrats. "Zu 60 Prozent ist der Müll im Meer jedoch Mismanaged Waste", so Köster, "also Müll, der nicht richtig eingesammelt und entsorgt wird." Auf der Oberfläche des Plastiks sammeln sich Bakterien, die es zersetzen und absinken lassen. Die Reaktionen darauf - von Politikern und der Öffentlichkeit - sind meistens absehbar und illustrieren, dass Müll heute besonders in seiner Rolle als Umweltverschmutzer wahrgenommen wird. Das versteht sich nicht von selbst. Kehricht hat zwar zu allen Zeiten Probleme erzeugt; die jedoch waren unterschiedlicher Art und abhängig vom historischen Moment.
In der Vormoderne führte Abfall vor allem zu praktischen Schwierigkeiten sesshafter Menschen. Es ist etwas anderes, ob man Dinge wegwirft und weiterzieht oder ob man mit den eigenen Hinterlassenschaften lebt. Fäkalien, Essensreste, kaputtes Werkzeug oder Asche wurden mithin von dem Moment an zu einem Störfaktor, da sich erste Siedlungen etablierten. Neolithische Dörfer waren Archäologen zufolge regelrecht vollgemüllt. Das dürfte verschiedene Tiere angelockt haben, die wiederum potentielle Krankheitsüberträger gewesen sind. So wird auch ersichtlich, warum die Bevölkerung nach der Sesshaftwerdung nur langsam gewachsen ist, obwohl die neue Lebensweise den Alltag erleichterte. Keime und Epidemien sind schuld. "Erst als die Menschen zunehmend Resistenzen gegen häufig vorkommende Krankheiten ausbildeten, stieg die Bevölkerungszahl dauerhaft an."
Der Geograph William E. Doolittle vermutet, schon frühzeitliche Menschen könnten gelernt haben, dass Fäkalien und Küchenabfälle das Pflanzenwachstum befördern. Ist also der Garten als wichtige kulturelle Schöpfung nur entstanden, weil man die eigenen Exkremente hinters Haus gekippt hat? Möglich, Belege dafür gibt es aber keine. Sehr wohl gesichert ist, dass an vielen Orten der Vormoderne die vom Müll ausgelösten Kalamitäten ernst genommen wurden. Uruk, die größte Stadt Mesopotamiens, verfügte über ein Kanalsystem, die Maya hatten Plätze für organischen Unrat, im altägyptischen Herakleopolis wurden etwa 2170 vor unserer Zeit die Abfälle der Eliten in den Nil gekippt, Troja besaß einige Hundert Jahre später eine Art Mülldeponie.
Dem zum Klischee gewordenen Hinweis, vormoderne Städter hätten ihren Müll einfach aus dem Fenster befördert, begegnet Köster mit Argwohn. Angesichts der umfassenden von ihm ausgewerteten Forschung ist das verständlich, denn Entsorgungslösungen, so die Diagnose, wurden allenthalben gesucht und oft genug auch gefunden. Dass die Stadt dabei im Mittelpunkt steht, obwohl der Urbanisierungsgrad in der Vormoderne niedrig war, ist kein Hinweis auf einen Kurzschluss, sondern dem Umstand geschuldet, dass Müll im ländlichen Raum in einem weit geringeren Maße zur Herausforderung wurde. Der Autor erweist sich als ausgesprochen kundig auf den Gebieten der Stadtgeographie, -planung und -ökologie: "Es war insgesamt das Zusammenspiel von Klima, Topographie, Bevölkerungsdichte, baulicher Gestaltung, Wirtschaftsstruktur und Außenbeziehungen, die bestimmten, wie dringend Lösungsstrategien für urbane Abfälle gefunden werden mussten."
Müll in der Vormoderne war nicht das, was heute in die Tonne wandern würde. Tatsächlich handelte es sich in erster Linie um menschliche und tierische Fäkalien. Die Trennung von Exkrementen, Abwässern und festen Stoffen setzte sich erst im neunzehnten Jahrhundert durch, wobei etwa in Florenz und Bologna schon während der Frühen Neuzeit zwischen nassen und trockenen Senkgruben unterschieden wurde. In Rom nutzte man die hügelige Topographie, um über die Cloaca Maxima Abwässer in den Tiber abzuschwemmen.
Solche Praktiken beförderten vom späten achtzehnten Jahrhundert an zunehmend das Bewusstsein für Hygiene und Krankheiten wie Typhus oder Cholera, an deren Stelle später übrigens von belasteten Böden und Gewässern ausgelöster Krebs als "genuine Krankheit des Umweltzeitalters" treten wird. Um 1900 gab es dreizehn angelsächsische, elf deutsche, sechs italienische, fünf belgische und vier russische Zeitschriften, die sich in erster Linie mit Aspekten der Städtehygiene auseinandersetzten.
Die Bakteriologie war bald zur Stelle und präsentierte im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert schlagende Argumente für die Bedeutung pathogener Keime. Damit schien sie die Vermutung zu bekräftigen, die "Städtehygieniker ohnehin von den unteren sozialen Schichten hatten, und sie bestärkte das Gefühl moralischer Überlegenheit, das sich im 20. Jahrhundert immer wieder zu rassistischer Eugenik steigern sollte". Im Übrigen ließe sich Städtehygiene durchaus als "koloniales Projekt" verstehen: "Sicher war es eine praktikable Unterwerfungsstrategie, Chinesen oder Inder als schmutzig zu portraitieren und aus den daraus resultierenden zivilisatorischen Unterschieden das Recht abzuleiten, über fremde Völker zu herrschen." Zur Wahrheit gehört gleichwohl auch, dass "imperialistisch bedrängte Gesellschaften" hygienische Ideale adaptierten.
Jedenfalls hat die Bakteriologie gelehrt, dass von Abfallhaufen, Ungeziefer und Dung Gefahr ausgeht. Unter anderem deswegen sind Tiere langsam aus urbanen Regionen verschwunden. Für städtische Transporte waren Pferde lange unerlässlich, aber ein ausgewachsenes Exemplar produziert zwanzig bis vierzig Kilogramm Fäkalien am Tag. Die Fliegenplage war da nur eine Frage der Zeit. Daher überstieg in New York schon 1912 die Zahl der Autos die der Pferde. Das allerdings lässt keine Rückschlüsse auf andere Gegenden zu. Bis in die Zwanzigerjahre hielten sich Menschen in Neapel Kühe - im vierten oder fünften Stock ihrer Wohnungen. Zur gleichen Zeit waren Schweineherden in mexikanischen Städten kein seltener Anblick. Eine Geschichte des Mülls ist immer auch eine Geschichte der Tierhaltung.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kamen mehr und mehr kommunale Müllabfuhren auf: Hierzulande war Frankfurt am Main 1873 "Vorreiter", Mannheim zog 1880 nach, Hamburg 1886, Dortmund 1889. Was Köster über die Entwicklung der Mülltonne zu berichten weiß, wäre eine eigene kleine Monographie wert. So fällt etwa in Ländern, deren Einwohner vor allem mit Kohle heizen, viel heiße Asche an, weswegen sich für ihre Entsorgung Behälter aus verzinktem Stahlblech empfehlen. Von einer Standardisierung war man zu dieser Zeit freilich weit entfernt. Das sollte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ändern, als die Menschheit "global in ein neues Müllzeitalter" eingetreten ist.
Heute hat der täglich produzierte Plastikmüll das Gewicht von ungefähr hundert Eiffeltürmen. "Werden keine drastischen Maßnahmen ergriffen, fallen weltweit im Jahr 2050 etwa 3,4 Mrd. Tonnen Hausmüll an, also noch einmal etwa 75 Prozent mehr als gegenwärtig." Angesichts dieser Zahlen lässt sich ermessen, wie wirksam Kampagnen gegen Plastikmüll tatsächlich sind. Und was gut gemeinte Schlagworte und Nachhaltigkeitsmaximen wie "Zero Waste" ausrichten können. Köster schreibt: "Gerade weil wir den Müll zwar selbst produzieren, aber nicht aus freien Stücken, legen Abfallströme offen, wie der Kapitalismus offensichtlich daran scheitert, die Produktion unseren Bedürfnissen anzupassen."
Insofern ist es wenig ertragreich, darauf hinzuweisen, die Menschen im Mittelalter hätten bereits Recycling betrieben. Schon richtig, Fleisch wurde nicht weggeworfen, Lumpen wurden gesammelt, Fäkalien dienten als Dünger. Das lag indes nicht an fortschrittlichen Reflexionen, sondern war eine Reaktion auf die vorherrschende Knappheit aller Dinge. "Würden die Azteken heute leben, würden sie genauso viel wegwerfen wie wir."
Aber wie viel ist das genau? Müll zu messen ist Köster zufolge ein "Verzweiflungsgebiet der Statistik". Er fällt in Millionen von Containern an, er landet auf Deponien und in der Natur. Zudem sei unklar, was als Müll gefasst wird. Ist der Abfall eines Restaurants privater Müll oder Gewerbeabfall? In Japan ist alles Müll, was nicht recycelt wurde, woanders werden die Müllmengen in der Regel vor dem Recycling angegeben.
Was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass das Volumen des Mülls seit Kriegsende stärker angestiegen ist als sein Gewicht - weniger Asche und organisches Material, mehr Verpackungen. Und die bestehen oft aus Kunststoff. Eine Plastikflasche ist im Meer erst nach hundert bis tausend Jahren abgebaut. Die Weg-werfwindel löst Hygieneprobleme, lässt sich jedoch nur schwer recyceln. Und Recycling wiederum erzeugt chemische Verbindungen, die sich nur unter hohem Aufwand in Stoffkreisläufe zurückführen lassen. Nach der Lektüre von Roman Kösters exzellentem Buch wird man Hollis Dole, dem ehemaligen Unterstaatssekretär des amerikanischen Innenministeriums, zustimmen wollen, der einmal sagte: "Müll ist unsere einzige wachsende Ressource."
Roman Köster: "Müll". Eine schmutzige Geschichte der Menschheit.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 422 S., Abb., geb.,
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