Besprechung vom 24.05.2024
Gekaperter Widerstand
Geiselnahme für das bessere Deutschland: Ruth Hoffmann zeichnet den Umgang mit dem Stauffenberg-Attentat in der Bundesrepublik nach.
Im August 1944, vor dem Volksgerichtshof hatten gerade Roland Freislers Prozesse gegen die nicht unmittelbar hingerichteten Verschwörer des 20. Juli begonnen, wurde der Bildhauer Richard Scheibe auf die Liste der "Gottbegnadeten" gesetzt. Hitler selbst und Goebbels hatten diese Liste von Künstlern im letzten Kriegsjahr anlegen lassen. Wer auf ihr verzeichnet war, musste nicht damit rechnen, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Scheibe, schon vor Kriegsbeginn prominent auf nationalsozialistischen Kunstausstellungen vertreten und während des Krieges mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft dekoriert, dankte dem Regime mit Durchhalteappellen bis in den April 1945. Nicht einmal zehn Jahre später ehrte ihn die Bundesrepublik mit dem Großen Verdienstorden, die Stadt Frankfurt am Main verlieh ihm nun die Goethe-Plakette. Und am Vorabend des 20. Juli 1953 enthüllte Ernst Reuter, Berlins Regierender Bürgermeister, im Hof des Bendlerblocks eine ausgerechnet von Richard Scheibe gestaltete Statue, die übermannsgroß einen an den Händen gefesselten Jüngling darstellte.
Die Geschichte dieses ersten deutschen Denkmals für den Widerstand, für dessen Sockel Edwin Redslob, Reichskunstwart der Weimarer Republik, eine Inschrift verfasste, zeigt in einer Nussschale, wie die Wahrnehmung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und die Erinnerung daran nach 1945 untrennbar mit dem Umgang der Deutschen - in beiden deutschen Staaten - mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den deutschen Verbrechen seit 1933 verflochten waren. Um die Geschichte dieser Verflechtung geht es in dem Buch von Ruth Hoffmann. Es ist daher eigentlich kein Buch über den Widerstand, sondern eines über die öffentliche Thematisierung der NS-Vergangenheit seit nunmehr fast acht Jahrzehnten und den Ort des Widerstands darin. Es ist geschickt arrangiert, gut lesbar, wenn auch mitunter in der Komposition ziemlich assoziativ und nicht in gleichem Maße analytisch wie erzählerisch. Dass Anmerkungen und selbst das Personenregister ins Internet ausgelagert sind, wird leider immer üblicher. Das dürften nicht nur Leser mit wissenschaftlichem Interesse bedauern.
Hinter dem Titel "Das deutsche Alibi" steht die These, dass das Gedenken an den Widerstand, nachdem dieser erst einmal Platz in der öffentlichen Erinnerung gefunden hatte, über Jahrzehnte hinweg dem Zweck diente, das Bild eines anderen, eines besseren Deutschlands zu zeigen, das es zwischen 1933 und 1945 auch gegeben habe. Ein Bild anderer, besserer Deutscher, das dazu beitragen sollte, die Vorstellung, ja den Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld, den die Deutschen gegen sich gerichtet sahen, zu konterkarieren. So wie die junge Bundeswehr sich in die Tradition des militärischen Widerstands stellte, um die Wehrmacht, aus der ihre Offiziere stammten, wenigstens auf diese Weise anschlussfähig zu machen; so wie das 1951 wiedergegründete Auswärtige Amt seine nationalsozialistische Vorgängerinstitution zum Hort des Widerstands erklärte, um die hohe personelle Kontinuität im diplomatischen Dienst zu rechtfertigen; so lenkte in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt die Betonung des Widerstands nicht nur von der breiten Zustimmung der Deutschen zum Nationalsozialismus ab, sondern auch von ihrer kaum minder breiten Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen. In Ostdeutschland wiederum, das in dem Buch eher kursorisch abgehandelt wird, verhinderte der ideologisch gesetzte und gesellschaftlich durchgesetzte Antifaschismus eine kritische, selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die hatte ein Staat nicht nötig, der sich ganz in die Tradition des sozialistischen und kommunistischen Widerstands stellte und den Faschismus in kapitalistisch-imperialistischem Gewande allein in der Bundesrepublik - und ihren Eliten - weiterwirken sah.
Der Kalte Krieg prägte das Widerstandsgedenken mindestens bis 1990, zum Teil jedoch weit darüber hinaus. Vor wie nach 1990 sah sich die Gedenkstätte deutscher Widerstand in Berlin massiven Anfeindungen und politisch bestimmten Vorwürfen ausgesetzt, weil sie versuchte, ein breites Bild des Widerstands zu präsentieren, unterschiedliche Formen und Träger oppositionellen Handelns, nicht reduziert auf den militärischen Widerstand und auch nicht auf ein Bild des 20. Juli als eine nationalkonservative Verschwörung. Das war in der Ära Kohl nicht einfach. Dass zum Netzwerk der Verschwörer des 20. Juli Angehörige der Arbeiterbewegung gehörten, Wilhelm Leuschner oder Julius Leber beispielsweise, dass Stauffenberg selbst mit Kommunisten zu kooperieren bereit war, das lief einem politisch erwünschten Widerstandsgedenken zuwider. Und dieses duldete eben auch keinen Makel an den zu entrückten Lichtgestalten erhobenen Oppositionellen. Nur deren Tat, vor allem Stauffenbergs Tat vom 20. Juli, zählte. Die komplexen Biographien gerade der widerständigen Militärs oder Diplomaten mit ihrer - in nicht wenigen Fällen - Republik- und Demokratiefeindschaft vor 1933, ihrer Begeisterung für die "Machtergreifung", ihrer Mitwirkung an Aggression, Expansion, zum Teil auch an deutschen Verbrechen, traten in den Hintergrund. Andere Formen der Opposition galten demgegenüber wenig bis nichts, gerade auch der frühe Widerstand, der gegen Unterdrückung und Verfolgung aufbegehrte, als die Männer des 20. Juli Hitler noch zujubelten und den Nationalsozialismus als Rettung begrüßten. Sie tauchen freilich auch in dem Buch nur am Rande auf.
An der Geschichtspolitik der Ära Kohl, die zu einem derart verengten Bild des Widerstands entscheidend beigetragen hat, lässt die Verfasserin nichts Gutes. Doch gerade diese Kapitel zählen zu den stärksten des Buches. Sie sind spürbar cum ira et studio geschrieben, aber nehmen Entwicklungen in den Blick, die die historische Forschung bislang noch kaum systematisch behandelt hat. Auch sie zeigen, wie die Erinnerung an den Widerstand niemals im luftleeren Raum stattfand, sondern in ihren Dynamiken stets dem politischen Zeitgeist folgte und diesen Zeitgeist auch spiegelte. Wer die jüngsten Publikationen zum Thema, die wissenschaftlichen wie die medialen, aufmerksam verfolgt, dem wird nicht entgangen sein, wie seit einiger Zeit nicht nur wieder gerungen wird um den Widerstand und sein Bild in Geschichte und Erinnerung, sondern in welchem Maße der Widerstand gegen den Nationalsozialismus vereinnahmt wird von erklärten Gegnern der freiheitlichen Demokratie. Querdenker und Corona-Leugner verglichen sich mit Sophie und Hans Scholl - von der "Weißen Rose" ist bei Ruth Hoffmann leider so gut wie gar nicht die Rede -, und unter Rechtsradikalen zirkulierten vor einigen Jahren Aufkleber und Plakate mit einem Bild Stauffenbergs und der Aufschrift: "Merkel länger an der Macht als Hitler - und kein Stauffenberg in Sicht". Stauffenberg und andere Oppositionelle sind attraktiv für eine Erinnerung an den Nationalsozialismus, in der nicht die deutsche Schuld im Zentrum steht, sondern Nationalstolz, der über den Widerstand selbst die NS-Zeit einzuschließen vermag.
Jenseits solcher rechtsradikalen Aneignungen dürfte angesichts der "Zeitenwende", des russischen Überfalls auf die Ukraine und der Rückkehr des Krieges auch in die deutsche Gesellschaft gerade der militärische Widerstand in der Erinnerung noch einmal an Bedeutung gewinnen. Der Imperativ der "Kriegstüchtigkeit" und die Militarisierung der Politik werden nicht ohne Wirkung auf die deutsche Geschichtskultur bleiben, deren postheroische Orientierung womöglich an ihr Ende gelangt. Da fällt der Blick wieder stärker auf Heldenfiguren, die Opfer wurden, aber zugleich durch ihr individuelles Handeln, ihren Mut, ihre Tatkraft, ihre Entschlossenheit idealisiert werden können. Und schnell werden dann auch Stimmen laut, die Offiziere wie Stauffenberg oder Tresckow nicht als Vorbilder einer despektierlich als Friedensarmee charakterisierten Bundeswehr verstanden wissen wollen, sondern als Orientierungsgrößen einer Truppe, die sich in ihrer Ausrichtung auf das Kämpfen, Töten und Sterben der Tradition der Wehrmacht nicht zu verschließen braucht. So schreiben die gegenwärtigen Entwicklungen, die sich zum bevorstehenden 80. Jahrestag des Hitler-Attentats noch einmal verdichten werden, eine Geschichte fort, die unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 begonnen hat. Es ist die Geschichte eines Mythos, der immer wieder neue Gestalt annahm und der, so hat es Klaus von Dohnanyi, selbst Sohn eines ermordeten Widerstandskämpfers, schon 1978 formuliert, weiterhin für den Tagesgebrauch ausgedroschen wird. ECKART CONZE
Ruth Hoffmann: "Das deutsche Alibi". Mythos "Stauffenberg-Attentat". Wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird.
Goldmann Verlag, München 2024.
400 S., geb.
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